Breslau, den 2 Okt. 1814.

Obgleich Du meinen lezten Brief noch nicht beantwortet hast, so muß ich doch einen zweiten nachfolgen laßen. So lange wir getrennt sind, mein liebster Schleiermacher habe ich noch nie eine so starke Sehnsucht ge habt, Dich zu sprechen, als jezt. Am meisten liegt uns freilich daran zu wißen, wie es um Deine Gesundheit steht und ich bitte Dich mit herzli cher Liebe, mir darüber ein beruhigendes Wort zu sagen, da ich schon lange und oft von Andern manches beunruhigende gehört habe. Mögten Dir doch Cur und Reise so wohl bekommen sein, als alle Deine Freunde es Dir von Herzen wünschen!

Dann aber drängt es mich auch, ein Wort mit Dir zu reden über die kirchlichen Reformen, oder wie man es sonst nennen will, mit denen man in Berlin umgeht. Was Du dazu meinst glaube ich so ziemlich zu wißen. Aber sage mir, wie ists doch möglich gewesen, daß man sich so verkehrt darüber gegen das Publikum hat erklären können, als es in dem Publi candum geschehen ist und daß man überhaupt mit solcher Aufsehn und große Erwartungen erregenden Ankündigung etwas beginnen kann, das nur in der Stille vorbereitet werden darf, da es am Ende doch auf nichts weiter hinausläuft, als daß man Beiträge und Formulare zu einer neuen Liturgie haben will, deren schon viel zu viel vorhanden sind. | 95v Der Con cipient des Publikandums muß wol davon gehört haben, die Predigt dürfe auch im protestantischen Cultus nicht immer das Einzige und Höchste sein, aber wie verkehrt ist gesagt, sie solle zum öffentlichen Gottesdienst nur ermuntern. Nicht minder dem Mißverstehen blos gegeben ist die Aeu ­ße­rung über die symbolischen Handlungen und ganz verwerflich die Er klärung daß die Uebereinstimmung der Formen die Andacht befördere. Von den Mitgliedern aus denen die Commißion besteht will ich nichts sagen und eben so wenig bedauern, daß ich Dich darin vermiße, Du würdest ohnedies in diesem Rath nicht sitzen wollen. Ich will herzlich gerne nur ganz auf die Sache selbst sehen, die keinem der das beste der Kirche will, gleichgültig sein kann. Und da ist mir sehr klar, daß das Reich Gottes nicht in äußern Geberden kommen wird, worauf es hier allein scheint abgesehen zu sein, und daß die Reform des Kirchenwesens, sofern Menschen dabei wirken sollen von ganz andern Dingen ausgehen müßte, als mit neuen Formularen, die den Geistlichen in den Mund gelegt werden, oder mit äußern Anordnungen über die Stellung der einzelnen Theile des Cultus. Die Sache macht hier Aufsehen und ich bin schon von Geistlichen und Laien mündlich und schriftlich zweifelnd und fragend angegangen worden, was daraus werden solle und was dabei zu thun sei. Zwar hoffe ich noch, der König wird den Plan den man ihm vorlegt, nicht so aufs Gerathewohl annehmen und die ganze Angelegenheit verschieben, oder noch andre fragen. Aber ich mögte doch wünschen, daß eine ruhige und bescheidne Erklärung über das, worauf es hierbei | 96 eigentlich an kommt von protestantischen Geistlichen und im protestantischen Sinne erschiene, um wo möglich zu verhüten, ne quid ecclesia detrimenti cape ret und damit der lezte Betrug nicht ärger werde, als der erste. Die Sache ist höchst wichtig und wie sie eingeleitet wird, kann ich mir nur eine noch größre Verwirrung und einen noch größern Verfall des Kirchenwesens als ihr Resultat denken. Was meinst Du dazu; erfreue mich mit einem Wort Deiner Einsicht und Liebe darüber.

Mit Deinen Predigten hast Du allen Frommen und Guten ein herrli ches Geschenk gemacht. Nach meiner Ueberzeugung sind es Deine be sten, auch wüste ich keiner in der Sammlung den Vorzug vor den übrigen zu geben. Wäre es mir möglich, ich würde eine kleine Zahl junger Geist lichen um mich her versammeln und diese Predigten mit ihnen lesen und zergliedern; denn dies würde mehr nützen, als ein Collegium über die Homiletik.

Dein College de Wette scheint mit der Dogmatik auch eine wunderli che Procedur vornehmen zu wollen. Freimüthig gestanden, so ist die Ein leitung das verkehrteste was mir in dieser Art vorgekommen ist. Seine historische Entwikklung des Hebraismus und Judaismus kann ich nicht beurtheilen. Aber seine Entwikklung des Christenthums aus dem Neuen Testament ist weder treu noch kritisch. Auf die eigentliche Darstellung bin ich nicht begierig, sie wird die obwaltende Verwirrung nicht lösen. Ists nicht möglich, daß Du ein Compendium der Dogmatik schreiben kannst, damit endlich eine haltbare Ansicht allgemeiner werde. | 96v

Wir erwarten nun einen neuen Schulrath und einen neuen Profeßor dazu. Als der erstere wird euer Delbrück genannt und ich glaube es, denn er machte schon Jagd auf diese Stelle als er noch hier war. Ich kann und will nur wünschen, daß wir einen tüchtigen Mann bekommen; dann kann ich wieder mehr als bisher für das eigentliche Kirchenwesen arbeiten, wofür ich zunächst angestellt bin und dem es so nöthig thut. Gott gebe nur, daß es wieder ein erfreuliches Geschäfte werden mag, in dieser An gelegenheit wirksam zu sein.

Mein lezter Brief hat Dich vielleicht etwas unwillig gemacht. Nimms nicht zu strenge damit, mein theurer Freund; Aeußerungen dieser Art sind mir im oft großen Gedränge meines Geschäftslebens ein Bedürfniß und eine Erleichterung. Und so mußt Du auch das ansehen, was dieser Brief enthält. Glaube mir, ich will nicht mich und meine Person, sondern nur das Gute. Wäre dies nicht, ich würde es anders anfangen und es gewiß hie und da mit manchen Leuten weniger verderben.

Wie es uns geht, laß Dir von Reimer sagen, dem ich auch geschrieben habe. Wir grüßen Dich und die Deinigen herzlich. Lebe wohl und laß mich bald hören, daß du wieder genesen bist und mich lieb hast.

Gaß.

Zitierhinweis

4075: Von Joachim Christian Gaß. Breslau, Sonntag, 2.10.1814 , ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007506 (Stand: 26.7.2022)

Download

Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen.