Endlich, mein liebster Schleiermacher kann ich Dir schreiben. Ich muß mich billig anklagen, daß es nicht früher geschah. Du kannst Dir aber leicht denken, in welchem Gewühl man sich hier befindet und wie es auch in meinem Hause an jungen Leuten, die theils aus alter Bekantschaft, theils mit Empfehlungen zu mir kamen, nicht leer geworden ist. Ich will Dir auch nicht sagen, wie besorgt wir um euch und um Berlin gewesen sind und wie froh uns die Nachricht von Eurer Befreiung gemacht hat. Aber die noch größere Besorgniß, die mir die Leitung der großen Angelegenheit erregt, kann ich Dir nicht verbergen. Alles geht wieder unerhört langsam. Ob man über den kombinirten Operationsplan schon mit Rußland einig ist, weis ich nicht; Scharnhorst ist wenigstens bei dem Kayser gewesen und es ist löblich, daß davon nichts ins Publikum kommt. Daß man sich aber über die Vertheilung des Commando noch nicht entschließen kann und sich offenbar in Verlegenheit befindet ist ein böses Zeichen, denn man merkt jedenfalls die Unentschloßenheit, die unser alter Fehler ist. Schon den 3ten sollte marschirt werden und noch heute (den 11ten) weiß man den Tag nicht bestimmt. Jeder Tag aber ist ein Verlust und schadet der herrlichen und nicht genug zu preisenden Begeisterung, die sich im Ganzen nah und fern zeigt. Der Kayser, der nach Scharnhorsts Versicherung | 84v ein ganz andrer Mann geworden ist und sich in den Gedanken, Europa zu retten immer mehr hinneindenkt und hinein arbeitet, ist schon seit mehr als 8 Tagen erwartet, aber immer noch nicht erschienen. Alles hoft auf ihn. Daß Stein seit fast 2 Wochen hier ist, wirst Du wißen, er wurde aber gleich krank und hat noch bis gestern das Bette gehütet. Hoffentlich ist er in einigen Tagen in Tätigkeit und so denke ich wird er wenigstens die Hinderniße wegschaffen, die den Gang der Angelegenheiten aufhalten. Gneisenau ist seit gestern auch hier und so ist doch zu erwarten, es werde etwas mehr Kraft sichtbar werden. Dies wird auch sehr noth thun, wenn die in dem Ganzen herrschende herrliche Stimmung nicht, wie es hie und da schon anfängt verfliegen soll. Das Bewustsein deßen, was geschehen soll hat alle Claßen durchdrungen; Gott hat es geoffenbart den Unmündigen, aber leider noch verborgen den Weisen. Darum muß man auch nach unten sehen und nicht nach oben und hoffen, in der allgemeinen Bewegung werde sich die rettende Kraft schon zur rechten Zeit heraufdrängen. Der Erfolg des Aufgebots hat gewiß alle Erwartungen übertroffen und es müßte eigentlich kein Glükklicherer auf Erden sein, als unser König. Aber glaube mir und ich schreibe es mit Wehmuth, der Erfolg wird auch hinter der mäßigsten Erwartung | 84a zurükkbleiben und vielleicht neues Unglükk einbrechen, wenn man in der Umgebung des Königs nicht bald und gründlich aufräumt, und wenn nicht Einsicht mit der rechten Gesinnung verbunden die Civiladministration und den Commandostab ergreifen. Nie ist wohl ein Minister in unserm Staat so allgemein und von allen Ständen gehaßt und was noch ärger ist, zugleich so tief verachtet worden; als Hardenberg und die zunächst um ihn sind. Wenn ich das Ganze ansehe, so scheint mir der darin sich regende Geist als eine göttliche Inspiration; denn warlich von außen ist sie nicht gekommen und eben so kann ich die Hülfe, wenn sie uns zu Theil werden soll auch nur von oben erwarten, muß aber fragen, ob wir ihrer auch würdig sind. – Doch ich will aufhören, Dich mit meinen Skrupeln zu plagen; vielleicht kann ich den Brief noch erfreulicher enden, als ich ihn angefangen habe.

Dazwischen mag indeß einiges andre Plaz haben. Es scheint ich bin bei Dir verklagt, als ginge ich nicht fein säuberlich mit Deinen Landsleuten um. Das kommt nicht aus der Provinz, wo man mich, wie ich gewiß weiß, sehr lieb hat, sondern aus Breslau, wo man es mir gar nicht vergeben kann, daß ich, wie man sich ausdrükt, ein Ausländer bin und daß ich nicht alles schön und unübertreflich finde, was man hier hat und zeigt. Es sind aber fast 2 Jahre, daß ich mir auch nichts dergleichen mehr habe merken laßen, so daß ich mich | 84av wundern müßte, wenn Du erst jezt davon gehört hättest. Was man Dir hinterbracht hat, ist vermutlich ein Vorfall mit Deinem Freunde Wunster, der mich endlich gezwungen hat, ihm recht derbe den Kopf zu waschen und ich hoffe, es solle eine Zeitlang vorhalten. Deine Landsleute haben viel Gutes, aber sie mögen gar zu gerne gelobt sein und das geht doch nicht immer. Glaube mir, es ist manchmahl recht dienlich, wenn darunter gefahren wird und es hätte wohl öfter Noth gethan, als es geschehen ist. Was gegen mich persönlich gerichtet wird, das laße ich ruhig vorübergehen. So habe ich es mit meinem Collegen Fischer gemacht und ihn dadurch in die größte Verwirrung gebracht. Was aber die Sache trift, wofür ich dabin, so verfahre ich ohne Schonung und Rükksicht. So verhält es sich und hoffentlich bist Du mit dieser Apologie zufrieden. Uebrigens wird Schlesien in dem, was jezt geschieht, den übrigen Provinzen den Rang nicht ablaufen; denn mit manchen Ausnahmen im Einzelnen ist die Gesinnung im Ganzen doch nur flau. Die wenigsten Freiwilligen werden gewiß von hier gestellt. Hirschberg von 6000 Einwohnern wollte keinen geben und sich mit – 2000 rthr loskaufen. Den braven Rektor Körber wollte man Abends aufpaßen und durchprügeln, weil er die jungen Leute zum Dienst des Vaterlandes ermuntert hatte. Wie gefällt Dir das? | 85

An Leuten, die zu dem Stillestehn der Universität sehr bedenklich den Kopf schütteln, fehlt es auch nicht, da es doch so leicht ist zu begreifen, daß für kein Institut Sicherheit ist, wenn wir keinen Staat haben. Der brave Steffens, der Dir über seine persönliche Theilnahme an der großen Sache selbst wird geschrieben haben, mußte viel leiden, weil er die Studenten kräftig anregte und sich an ihre Spize stellte. Wir hatten schon 360 Studirende, das war recht gut; wir haben jezt nur Mißvergnügte, Krüppel und einige Ausländer, vielleicht noch 70. Auch das ist noch zu viel; ich wünschte es wäre kein einziger da und in allen jungen Leuten lebte der Gedanke, sich erst eine freie Welt zu erkämpfen, in der sich allein mit Sicherheit leben und wirken läßt.

Daß in dem Gutachten über die Kirchenzucht zu viel Theorie sei, gebe ich gerne zu. Aber theils wollte ich das Departement ganz in den angenommenen Gesichtspunkt stellen, theils war es mir selbst lieb, die meistens troknen Arbeiten, die mir obliegen, ein mahl mit einer wißenschaftlichen Darstellung auffrischen zu können. Was mir sonst nicht mehr an dem Aufsatz gefällt, glaube ich Dir schon in meinem lezten Briefe ge- schrieben zu haben. Uebe nur Dein Recht daran, ich laße es mir gerne gefallen. Die Geschäfte der Deputation sind noch, wie sonst im Gange und da die weltlichen Mitglieder in andern Deputationen helfen müßen, so ist meine Arbeit eher vermehrt, als verringert, so daß mir in den lezten 3 Monathen nahe an 400 Sachen vorgelegen haben. Dies bringt mich etwas in Rükkstand mit einigen Arbeiten | 85v für das Departement und es würde mir lieb sein, wenn Du nebst meinen freundlichen Grüßen, Nikolovius und Süvern in meinem Namen bitten wolltest, uns nicht zu drängen. Die allgemeine Bewegung in der man sich hier befindet, und die Menge junger Leute, die von auswärts an mich empfohlen sind, tragen auch nicht dazu bei, mich am Aktentisch festzuhalten; aber ich werde doch suchen, diese Angelegenheiten so lange als möglich festzuhalten.

Für die Einrichtung der Landwehr ist hier auch noch nichts geschehen. Der Graf Dona (Bruder des Ministers) ist deßhalb schon seit 14 Tagen hier, aber man drukst immer daran, wie in allen übrigen Dingen. Ein andrer Dona ist aus Spanien angekommen und gleich als Major angestellt, leider aber kann er den rechten Arm, der zweimahl verwundet ist, wenig gebrauchen. Grollmann kam auch schon vor einigen Wochen zurükk, so viel ich aber weiß, ist seine Anstellung noch nicht bestimmt.

Gestern habe ich mit großer Freude eine Erzählung von der Wegnahme Berlins gelesen. Welch ein Contrast zwischen diesen fliehenden Franzosen und denen die in Halle einrükten und mit den Worten auf Dein Zimmer traten: nous sommes les invincibles! Was könnte und sollte jezt geschehen und wie langsam geht alles, es ist unbegreiflich und unausstehlich. Der Kayser erwartet den König in Kalisch und dieser sizt hier ganz ruhig, auf jenen wird hier täglich gehoft und er kommt nicht. Wir hoften die Räumung Berlins würde das Signal des Aufbruchs sein; aber nichts davon! In Westphalen und am Rhein ist alles bereit und mann kommt nicht. Man hat ruhig geschehen laßen, daß die Franzosen alles Vieh und Pferde um Glogau her in die Stadt getrieben haben; in Küstrin und Stettin wird es nicht anders sein. | 86 Nach dem lezten Gefecht bei Kalisch ließ man nicht nur flüchtende Franzosen und Sachsen durch, sondern auch das Lazareth und als Merkel darauf antrug, wenigstens das leztere nicht über die Grenze zu laßen, erhielt er zur Antwort, dies sei gegen die Gesetze der Menschlichkeit. Daraus ist aber entstanden, daß der bösartige Tyfus schon 15 Dörfer des Breslauer Kreises angestekt hat und fast bis an unsre Stadtthore reicht. Ein schlechtes Manifest in Form einer publizistischen Deduktion soll schon gedrukt und wieder zurükkgenommen sein. Wie gefällt Dir das alles? Ich bin müde mehr davon zu schreiben.

Dein Brief an Röder ist gleich besorgt; ich weiß nicht, ob er Dir geantwortet hat, denn er wurde gleich darauf verschikt. Heute aber sprach ich ihn noch und er läßt herzlich grüßen und eben so die beiden Grafen Dona mit denen ich gestern Abend bei Rehdigers zusammen war. – Merkel ist nun ChefPräsident der Regierung geworden und  korr. v. Hg. aus: daßdas ist etwas Gutes. Zugleich aber sind vier Civilgouverneurs ernannt, für Schlesien der ehemahlige Minister Altenstein, zwischen der Elbe und Oder der vormahlige GrCanzler Beyme, zwischen der Oder und Weichsel Sak und jenseits der Weichsel der Präsident Schön in Gumbinen. Dies hängt vermuthlich mit der Organisirung der Landwehr zusammen, sonst ist kein Sinn darin, wunderbar aber bleibt, wie man ehemahlige Staatsdiener wieder herbei ruft, ohne eine schikkliche Stelle für sie zu wißen. Aber was sagst Du dazu, daß man den Minister Dona zum RegierungsPräsidenten in Marienwerder machen will und den der hier ist, nach Königsberg schikt. Das erinnert an den Minister Ingersleben, | 86v den man zum zweiten mahl zum Präsidenten der Pommerschen Regierung gemacht hat. Aber wie kann man doch diese beiden in eine Classe werfen.

Das Manifest soll nun wirklich gedrukt sein und nächstens erscheinen. Ancillon wird als Verfaßer genannt. Noch habe ich nichts davon gesehen. – Morgen kommt der Kayser und wird das Gedränge und die Bewegung noch vermehren; hiernach hat sich der Ausmarsch der hiesigen Truppen wohl verzögert und wird nun gewiß in einigen Tagen erfolgen, da sie übrigens in Schlesien schon in Bewegung sind. Kutusow wird das Commando der ganzen kombinirten Armee führen. Wir wollen doch noch hoffen, daß alles gut geht, wenn die Sache erst im Fluß ist.

In dieser Zeit habe ich auch ein mahl vor dem Könige gepredigt und an einem Wochentage mit den Garden Communion gehalten, wobei sich fast 900 Communikanten einfanden. Es war wirklich recht feierlich. Noch ist mir angedeutet, mich auf eine Rede vorbereitet zu halten am Tage des Ausmarsches und unmittelbar vor demselben und wenn es das Wetter erlaubt unter freiem Himmel. Ich werde diese Sachen wohl müßen zusammen drukken laßen und sie Dir dann schikken.

Und nun lebe wohl, liebster Schleiermacher. Deine Grüße durch Sak und andre Freunde habe ich erhalten. Grüße die Deinigen und Reimers herzlich von uns und behalt mich lieb als

Deinen treuen Freund G.

Bresl. den 14 Mz 1813

Zitierhinweis

3836: Von Joachim Christian Gaß. Breslau, Donnerstag, 11.3. bis Sonntag, 14.3.1813, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007501 (Stand: 26.7.2022)

Download

Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen.