Sonnabend d 30t Januar 1808

Ich kann nicht ganz fehlen da von hier an Dich geschrieben wird, theurer geliebter Vater. Ich denke nun schon so oft an die Stunden die mir die lang ersehnte liebe Freude Dich wieder zu sehen wircklich machen werden.

Wie wir [uns] dann traulich mit ein ander auswechseln werden, und wie mir Trost und Zuversicht daraus erwachsen wird – wie oft sehe ich Dich mit den süßen Kindern kosen und meine Freude an ihnen noch durch Deine Zufriedenheit, und durch Deine Hoffnungen mit denen Du sie anblickst, vermehrt. – Vgl. Brief 2611.  [Schließen] Wie sehr unrecht habe ich meinem süßen Kinde der kleinen Jette in meinem lezten Briefe an Dich gethan – sie ist seither so allerliebst, so heiter und anschmiegend, spielt den ganzen Tag ohne durch Mißlaune unterbrochen zu werden – so daß ich Dir meine Freude über die glückliche Umwandlung ihres Wesens nicht genug ausdrücken kann. Sie ist jezt ein sehr liebes gutes Kind, ich bin nun noch mehr in dem Glauben bestärckt den ich schon früher öfters hatte daß sie nicht eigentlich krank aber doch etwas fehlerhaftes in ihrer | 5v Gesundheit gehabt hat, das nun vielleicht bei der gründlichen Heilung ihres Körpers nach der schweren Krankheit, gehoben ist.



 Im Hintergrund steht der Tod des ersten Gatten Ehrenfried von Willich im Jahr 1807 noch vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes Ehrenfried von Willich.  [Schließen] Lieber Vater ach Du weißt es was für Erinnerungen in mir wohnen diese Tage – welche überaus schmerzvolle Bilder –    Gott lob daß ich den süßen Knaben nun an meine Brust drücke!    wie ich saß am Bette des kranken Mannes und ganz verloren war zu lauschen auf jeden Athemzug, zu begleiten jede Bewegung in der gespanntesten Erwartung nun würden die Zeichen der Besserung herannahn – ach ich harrte und harrte!



Sonntag Morgen.

Wie oft verliere ich mich in der Betrachtung der wunderbaren Führung unserer Schicksaale wie umdunckelts mich wenn ich wagen will tiefer in ihren Zusammenhang zu blicken: doch immer mehr hellt sich mir auf der Glaube an den innigen Zusammenhang des Menschen selbst mit seinem Schicksal – immer mehr komme ich zum Verständniß jener  Novalis: „Heinrich von Ofterdingen“, 2. Teil, 1803, S. 33 (vgl. ders.: „Schriften“, Bd. 1, 1960, S. 328, Z. 35 f.)  [Schließen]Worte Novalis | 6 „Schicksal und Gemüth sind nur verschiedene Nahmen desselben Begriffs“ die ich lange in mir trug ohne sie zu verstehen – Wie gewiß ist es daß schon in früher Jugend in den Träumen des Mädchens eine dunkle Ahndung meines jetzigen Schicksaals eingehüllt war – Ein größeres fröhliches Wirken in der Mitte der Welt war fast nie in den Bildern die mich trugen die Höhe des Lebens hinauf – so stille Geschiedenheit von der Welt und ihren Verhältnissen, Entbehrung der süßesten Freuden des Lebens, sehnsüchtiges Bliken nach dem Himmel, Liebe dort zu suchen, den höchsten Genuß in geistigen Verbindungen mit Lebenden und Gestorbenen – das war es was frühe vor mir lag und wohin mein ganzer Sinn sich neigte. Nicht überraschend war es mir als ich Liebe fand – aber als sich auch ein festes Erdenglück mir eröffnete ward ich überrascht – wie wenig, unbegreiflich wenig überraschend war es mir eigentlich im Innern, als es schwand –

geliebter Vater weißt Du es wohl recht wie Du mir wohl thust, Du ganz besonders, | 6v durch deine Zuversicht zu mir, wie ich Dir dafür danken möchte – ach und doch wieder, wie sie mich niederschlägt, weil ich mich ihrer unwerth fühle – Mein lieber Vater mir ist es oft so klar, wie Du ein liebes Bild, das in Dir wohnt von einer Tochter wie sie für Dich gehörte, auf mein Wesen niedersenckst, das wohl einige Uebereinstimmung mit dem geliebten Bilde haben mag, daher Du nicht gewahr wirst die großen Disharmonien die verborgen darunter ruhen –  Siehe ich erkranke bisweilen so sehr an dieser Verzagtheit an mir selbst daß mir ist als müße ich mich los machen von Allen die an mich hängen weil Alle mich in täuschendem Lichte erblicken, und es mir versagt ist so zu sein als sie mich wähnen. Du weißt wohl daß dieser Zustand vorübergehend ist, aber eine bleibende Unzufriedenheit ist dennoch in mir, und eben weil sie bleibend ist weiß ich daß sie nicht grundlos sein kann.

Ach Lieber ich werde hier auch nicht genesen – die Quelle ist tiefer – ach Lieber wie soll ich Dir aussprechen was es eigentlich ist | 7 ich glaube Mangel an Liebe Engheit des Herzens – o mein lieber Vater wäre mein Herz warm und weich, und es würde noch so tief verwundet und es trüge noch so heiße Schmerzen ich wäre dennoch glücklicher als jezt in dieser kalten Ruhe und Unempfindlichkeit.

Guter Vater ziehe Deine Hand nicht ganz von mir wenn Du einst inne wirst  korr. v. Hg. aus: dasdaß ich wahr rede



 Der 2. Februar war der Todestag Ehrenfried von Willichs. [Schließen] Den 2ten Lieber kommst auch Du heute zu mir so herzlich mich aufnehmend, als ich mich heute an Deine Brust werfe mit Wehmuth und Liebe? stille Trauer wohnt in mir an diesem Tage der bittersten Trennung – und stille Feier daß Er der Liebe zu höherm Leben und höhern Freuden einging – feiern werden diesen Tag die Geister denen die herrliche Seele näher verbunden ward durch seinen Abschied von der Erde.

Wie mich heute Morgen der helle Strahl der Sonne traf! grade so schien sie nach vielen trüben Tagen an jenem Morgen – und ihr Schein rührte mich unbeschreiblich, es war die angstvollste Nacht vorangegangen, in der zum ersten Mahl | 7v mich Hoffnungslosigkeit ergriffen hatte – ich konnte beten, ich konnte wieder hoffen und ging neu gestärckt zum geliebten  Ehrenfried von Willich [Schließen] Kranken um wieder ganz für seine Pflege zu leben – Ach als aber der Ausbruch der Kranckheit in so hohem Grade stieg daß ich nicht meine Fassung bewahren konnte führten die Freunde mich hinweg – und ich sah ihn nicht lebend wieder – mir hat es recht wehe gethan und ich habe es sehr bereut daß ich nicht seine Hand gehalten in der lezten Stunde, eine gewisse Sorge für mich selbst, mich zu schonen in meinem Zustande, ließ mich den Bitten der Freunde nachgeben, entfernt zu bleiben, ach hätte ich es nicht gethan! mir wäre wohller gewesen – wie unbeschreiblich sehnte ich mich und sehne mich noch immer in der Erinnerung, nur nach einem Augenblicke hellen Bewußtseins nur nach einem herzlichen Abschiedsworte von ihm – o warum ich nicht diesen Genuß haben sollte, gewiß ich wäre starck gewesen und aus solchen Worten wäre mir eine Quelle unendlichen Genußes auf immer hervorgegangen –   O wie herrlich war das Ende meiner Mutter, als sie mit voller Gewißheit ausgesprochen daß sie nun | 8 sterben würde, saß der alte fromme betrübte Vater neben ihrem Bette, fragte sie ob er ihr etwas aus der Bibel oder dem Gesangbuch vorlesen solle, nein lieber Vater, antwortete sie, das brauche ich nicht ich habe mich lange auf diese Stunde vorbereitet, jezt rufe mir unsere Kinder, ich muß sie noch Alle sehn und sprechen – sie nahm auf das herzlichste von uns Abschied und verschied so sanft –

Wie habe ich mich heute den theuren Kindern , seinen Kindern, mit neuer Innigkeit ganz geweiht! Die kleine Jette ist gar lieb und hold jezt – ach ich bin so unendlich besorgt um sie – wenn sie nur recht natürlich und ungekünstelt bleibt, sie ist so klug und kein Wort was ihr gesagt wird, geht ihr verloren. Ihr Spiel mit der Puppe ist gar hübsch, sie behandelt sie völlig wie ein lebendiges Wesen, hält lange Reden an sie. Nichts lieberes kann ich ihr erzählen als von nieben Scheiermacher und  Henriette Herz war im Haus von Charlotte von Kathen 1808 als Erzieherin tätig.  [Schließen] niebe Tante Härs wie sie euch nennt. Dann geht eine Schilderung des Frühlings voran, dann komt ihr an, wir gehen zusammen nach dem Garten und ins Feld, sie zeigt mir mit welcher Hand sie Dich anfassen will und mit welcher | 8v Tante Härs, und dann komt noch die allerreitzendste Scene, wie wir zusammen im Holz Thee trinken und Butterbrod essen – Vorigen Sonntag war sie zum ersten mahl wieder aus, wir waren zusammen bei meiner lieben Lotte in Götemitz – wie war das Kind voll Freude – und wie war mein Herz voll Danck gegen Gott der sie mir erhalten – Wie viel schöner wird es noch in Götemitz sein wenn die theure Jette erst dort ist– könnte ich doch auch recht oft sie sehn – wie wohl thut es mir immer meine Lotte zu sehn, die Herrliche, Liebevolle! sie ist mir eine rechte Schwester. Würde Jetten doch wohl bei uns zu Muthe! mehr Liebe könnte sie nirgends finden –     Luise von Willich  [Schließen] Louise hat viel an Dich geschrieben, sie hat Dir gewiß gesagt daß  Vgl. Brief *2623.  [Schließen]ihr Verhältniß sich aufgelöset wie ich erwartete, und ich bin froh darüber, Du wirst es auch sein. Louise ist viel trübe, doch kannte ich sie immer so im häuslichen Leben – sie wird schwerlich je ganz genesen, doch hoffe ich viel von der theuren Jette für sie an die sie sehr hängt, mit uns beiden ist es – ja wie soll ich sagen, nicht schlimm, aber ganze schwesterliche Innigkeit ist nicht da, ich kann nicht ganz mit Louisen theilen, ich bin auch oft ungefällig gegen sie, so sehr ich mich nachher auch darüber schelte. Louise ist sehr gut, lebte sie nur mehr | 9 in Harmonie mit sich selbst – strebte nicht so in Allem nach dem Ideal ohne doch die Kraft zu haben die Wircklichkeit dahin zu führen – alles Unvollkommne findet sie immer nur außer sich – sie lebt in ewiger Selbsttäuschung – das Schicksal ist unendlich hart gegen sie – doch warum ist es das? – glaube mir lieber Vater Louise wäre nicht glücklich und hätte sie Alles was die Erde Schönes geben kann. Ich habe sie wircklich lieb und fühle ein tiefes Mitleiden mit ihr darum wirst Du mich nicht mißverstehn in dem was ich über sie sagte.   Ach ich hätte wohl am wenigsten Recht ein herbes Wort über sie auszusprechen – glaube es glaube es theurer Vater es sind Disharmonien in mir von denen Du gewiß keine Ahndung hast – nicht in deutliche Worte mag ich sie ausreden – aber glaube und merke, und ziehe ab von dem lieben Bilde das Du von mir in Dir trägst – Was mich allein über mich beruhigen kann ist,  korr. v. Hg. aus: dasdas es einen Punkt giebt in den mein ganzes besseres Seyn sich samlen kann – Mutter sein – | 9v ja lieber Vater ich verspreche es Dir ich werde eine gute Mutter sein – ich fühle mich hierzu gekräftiget und begabt nicht durch meinen guten Willen allein – Keiner Schwäche keiner mütterlichen Eitelkeit sollst Du je mich zeihen können – nur da wo jeder Vorwurf aufhört, wo Beschräncktheit meiner Natur mir versagt mehr zu sein – nur da sollst Du Mangel finden können –  Lieber Vater ich könnte immerfort so plaudern – aber schon zu viel ist davon geworden – vergieb –

Sage mir bald ein herzliches Wort, und wie es Dir geht

Deine Henriette.

Du hast nun Deine eigne Wirthschaft – ach könnte ich mit den Kinderchens so zu Dir und   Anne (Nanny) Schleiermacher  [Schließen] Nanny kommen auf einen Nachmittag nur – grüße diese doch von mir –

Zitierhinweis

2620: Von Henriette von Willich. Sonnabend, 30.1. bis Dienstag, 2. 2. 1808, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0006449 (Stand: 26.7.2022)

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