Wieck den 15t November.

17.

Süßer Ernst ich muß mir wieder ein ruhig Viertelstündchen suchen um mit Dir zu plaudern – Ich habe Dir immer so viel zu sagen, so viel Dich zu fragen und schreibe oft mitten in der Gesellschaft in Gedanken an Dich – aber wenn ich nun wircklich dazu komme ist mir fast nichts mehr von dem gegenwärtig was ich Dir gerne sagen wollte. Das thut mir dann recht leid. Heute wollte ich Dir von dem gestrigen Tage erzählen der mir sehr lieb war. Ich fuhr mit   Maria Christiane Luise von Willich  [Schließen] Louise und den   Henriette Pauline Marianne von Willich und Ehrenfried von Willich  [Schließen] Kindern früh morgens nach Altenkirchen , ließ unsere Kinderchens unter  wahrscheinlich Amalie Ha(h)ne  [Schließen] Malchens Obhut mit den Knaben recht fröhlich spielend und ging mit Louise in die Kirche. Ich hörte  Hermann Baier [Schließen] Herrman zum ersten Mahl, sein Anblick rührte mich sehr, er sah so fromm aber auch so blaß aus und die traurige Ahndung die wir Alle haben, daß wir ihn vielleicht nicht sehr lange unter uns behalten – und der trübe Zweifel ob sich sein kurzes Leben nicht vorüber fließen werde ohne daß sich das schönste und heiligste Band  lies: ihm [Schließen]ihn schlinge – das alles bewegte mich sehr – Ich fand eine große Anstrengung in  oder: seinem Sprechen [Schließen]seiner Sprache, die Schwäche seiner Brust so bemerkbar, | 39v daß es mich ordentlich erschrekte, ich hatte es mir so gar nicht vorgestellt. Er redete mit außerordentlicher Lebhaftigkeit und Wärme, aber nicht fließend aus zu großer Anstrengung. Ich hatte in so langer langer Zeit keine Orgel gehört, die gestrige war so wunderschön, ich kann Dir nicht sagen wie mir in der Kirche zu Muthe war, und wie Du mir gegenwärtig warst obgleich meine ganze Seele auch beim Gottesdienst war. Wie ich an der heiligen Stätte in den innigsten Augenblicken auch meine Liebe zu Dir so ohne Maaß so ganz Dein Geschöpf mich fühlte, daß mir hierdurch die Göttlichkeit unserer Liebe wieder recht mit Entzücken durchdrang. – Nur ein Zweifel fiel mir ein und ich nahm mir gleich vor Dich darum zu fragen. Ob ich nehmlich auch wohl Unrecht habe die Empfindungen die durch die Musik in der Kirche bei mir erzeugt werden religiöse zu nennen? Siehe ich muß Dir gestehen daß mir ganz anders ist wenn sie den Gottesdienst begleitet als wenn nicht – Wie meine Seele von den Tönen hinaufgetragen wird welch eine Freiheit in mir entsteht, welch ein Fühlen des Heiligen und Unendlichen | 60  korr. v. Hg. aus: daßdas kann ich Dir nicht beschreiben.  Vgl. Brief 2907, 100 – 107. [Schließen]Grade was ich Dir neulich klagte daß mir sei als drücke mich das körperliche und hindere mich, mich frei in Empfindungen und Thränen zu ergießen, dies gepreßte wird wie sanft von mir gehoben, und frei bewegt sich meine Seele. Und die Bilder des Ewigen und Unendlichen die Liebe zu den theuren Menschen die Gott mir gegeben erfüllen mich ganz. Mit welchen Thränen und Gelübden ich dann im Geiste unsere Kinder an mein Herz drücke – Sage mir mein Ernst ist es wohl rein christlich daß etwas außer mir solche Gewalt über mich übt im religiösen daß es etwas außer mir bedarf um mich recht ganz in Gott zu senken?



 Vgl. Brief 2893, 102 – 104. [Schließen] Herrman habe ich gestern die freundlichen Worte über ihn mitgetheilt, und er ward recht freudig dadurch bewegt, er sagte mir er habe sich schon in früherer Zeit beim Lesen der Monologen und der Reden unaussprechlich nach Dir gesehnt – er hängt mit inniger Verehrung und Liebe an Dich – An seiner Verbindung mit  Alwine Kosegarten [Schließen] Alwina zweifelte ich fast. Kosegarten hat freilich zu Lotte Schwarz davon gesagt er wünscht sie sehr. Alwine hat wieder das | 60v Gegentheil versichert und ihre Briefe an ihre Freundinnen hier reden immer von ihrer Zufriedenheit dort und daß sie sich keineswegs nach Altenkrichen zurüksehnt. Daß Herrman sie liebt ist gewiß, ich fürchte aber sie erwiedert es nicht, ihr Betragen gegen ihn soll sonderbar sein. Er ist durchaus verschlossen selbst gegen seine Geschwister.

Manch freundlich Wort rede ich mit  Philippine Schwarz, geb. Hahne [Schließen] Philippiens von dir und auch von  Ehrenfried von Willich [Schließen] Ehrenfried erzähle ich ihr gerne – sie hatte ihn sehr lieb. Vor 8 Tagen hörte ich Theodor predigen, ich kann mir doch nicht anders vorstellen als daß er dir dabei auch lieb gewesen sein würde. Er ist doch recht von Herzen Prediger, wenn ich auch begreife daß dir Herrman immer Lieber bleiben wird. – Mein Ernst wie ich mich nun oft nach Dir sehne kann ich dir gar nicht sagen. Sprich bin ich dir auch noch immer ebenso lieb als damals wie ich dir am aller liebsten war? Sei nicht böse und lache auch nicht daß ich dich so frage ich mag es gar zu gern und du mußt dir das gefallen lassen daß ich noch oft komme und dich frage ob du mich auch lieb hast; ich müßte mir Gewalt anthun wenn ich es nicht sollte, es ist mir immer wieder eine neue Freude wenn Du so herzlich mich deßen versicherst. – Leb wohl mein lieber lieber süßer Mann. –

Zitierhinweis

2923: Von Henriette von Willich. Wiek, Dienstag, 15. 11. 1808, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0006752 (Stand: 26.7.2022)

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