Berlin d 29t. Octob. 8.

No 17.

Liebste Jette ich komme eben davon her recht viel aus Deinen Briefen gelesen zu haben. Dieser lezte Abend in der Woche ist der einzige den wir zu Hause zugebracht haben   Anne (Nanny) Schleiermacher  [Schließen] Nanny und ich, es war mir ein solches Bedürfniß, daß ich es ausschlug bei Reimers zu sein. Unser Theestündchen ist nun vorbei, ich hatte Nanny ein Paar Gesänge aus der Iliade vorgelesen, mit den Arbeiten habe ich Schicht gemacht, womit konnte ich nun die Woche schöner beschließen?  Vgl. Brief 2893, 57 – 64. [Schließen]Wenn ich nun auch mit gutem Gewissen Dir gar nicht Ja antworten konnte auf die Frage ob ich wol anfangs manches mißverstände: so ist mir doch ganz sonderbarerweise manches jezt ganz neu vorgekommen. Wie das nur zugeht da ich doch gewiß nicht im Stande bin irgend etwas zu übersehen in Deinen Briefen! Es geht mir freilich mit den geliebtesten Büchern eben so; bei jedem Lesen wird der HauptEindruk durch irgend eine einzelne Seite vorzüglich bestimmt und das andere tritt nicht so deutlich hervor. So war mirs nur ganz dunkel erinnerlich daß Du armes Kind einmal hast schwere Träume gehabt über mich und Angst ausgestanden meinetwegen. Gottlob sie haben nichts bedeutet, aber wie mache ich denn das gut, du arme? ich denke so oft an Dich und schreibe Dir so oft wenn Du gewiß schon schläfst, wie auch heute wol der Fall ist denn man liebt auf Jasmund zeitig schlafen zu gehn. Dann denke ich mich immer so lebendig an Deine Ruhestätte und sehe Dich im Geist sanft schlummern und ruhig Athem holen nur manchmal mit einer leisen Andeutung einer sorglichen Bewegung nach den  Kinder der Henriette von Willich aus erster Ehe [Schließen] Kinder . Sollte ich Wachender dann nicht die Kraft haben dir schlafenden die süßesten lieblichsten Träume einzuflößen, und ein recht ruhiges heiteres Andenken an Deinen Ernst? ich wollte ich könnte das, dann wollte ich auch recht Dir die Schuld beimessen das  über den ursprünglichen Text geschriebendaß ich so gar nicht von Dir träume, ich weiß mich nur ein einzigesmal zu erinnern. Mache doch durch Deine belebenden Einflüsse | 41v gut was mir die Natur versagt hat. Ich entbehre fast ganz der Süßigkeit der Träume; es ist als ob ich kaum Leben und Fantasie genug hätte für das Wachen, und in der Nacht nichts dürfte angreifen davon. Ich schlafe immer ein mit Deinem lieben Bilde aber im Traum erscheint es mir nicht; nur wenn ich erwache finde ich es wieder. Vgl. Brief 2852, 61 – 72. [Schließen] Dann ist mir auch besonders aufgefallen was Du mir geschrieben hast von Deinen verschiedenen Stimmungen zu der Zeit als Du die Kinder unter Deinem Herzen trugst. Gewiß ist die herrschende Stimmung der Mutter und der sich bildende eigenthümliche Geist des Kindes sehr eins und dasselbe und hierin liegt auch zum Theil das wahre in dem Begriff der Erbsünde, die eben deshalb auch ursprünglich von der Mutter abgeleitet wird nicht vom Vater, aber von Schuld und Vorwürfen kann doch überhaupt nur schwer und bei Dir denke ich gar nicht die Rede sein. Denn sieh nur, es ist noch gar nicht ausgemacht ob nicht das sich bildende Wesen des Kindes eben so sehr Ursache ist an der Stimmung der Mutter als diese an jenem. Diese Stimmung ist so oft ein fast fremdartiges Wesen, oder wenigstens etwas sonst nur seltenes, nur leise auftretendes auf einmal zur Herrschaft erhoben, oder etwas fast verjährtes und verblichnes plözlich wieder verjüngt und neu belebt. Eine Frau die empfangen hat steht auf jeden Fall auf eine ganz unmittelbare Weise unter der Obhut und Gewalt der unendlichen bildenden Natur. Freilich kann diese nicht auftreten gegen ihre Freiheit sie kann ihr nichts aufdringen, was ihr wirklich ganz fremd wäre; aber mit einer wunderbaren Gewalt herrscht sie in dieser Zeit über die Mischungen und Verhältnisse aller Kräfte und Neigungen, und die Mutter kann wol kaum mehr als nur in den Zustand der ihr angewiesen wird eine schöne Temperatur bringen, den Ton der einmal angeschlagen ist rein halten und harmonisch mit der Vernunft durchführen. So ist vom ersten Augenblik an  lies: Selbstbildung  [Schließen]Selbstildung und Erziehung Eins und in keinem von beiden je Gewalt zu brauchen; so ist vom ersten Augenblikk an ein kräftiges wechselwirkendes Leben gesezt, wo jeder Theil eigentlich nur sein selbst wahrzunehmen | 42 hat und übrigens die heilige Natur muß gewähren lassen. Das tiefste Geheimniß ruht auf der Erzeugung des Menschen, auf der ersten Bestimtheit seiner Bildung zum Geschlecht und zum eigenthümlichen Wesen. Nie wird die frevelnde Willkühr sich rühmen können zu  über den ursprünglichen Text geschriebendaß irgend etwas ihr Werk sei, daß sie es lenken könne so oder so und hier wie überall ist ihr nichts verstattet als zu vernichten. Aber auch dem Verstehen weigert sich die Natur hier mehr als irgendwo; sie nimt dem Menschen erst die Besonnenheit, nur im süßen Rausch der Liebe treibt sie ihr heiliges Werk. Indeß verstanden soll und muß sie doch werden je länger je mehr, damit sie auch recht verehrt und angebetet werde; und aufmerksame Väter und Mütter können viel dazu beitragen. Soll ich Dir sagen wie es mir vorkommt mit Dir?  Vgl. Brief 2852, 175 – 180. [Schließen]Wenn Du wirklich so ein heftiges und regierendes Kind gewesen bist so mußt Du Dich darunter beugen daß es der Natur gefallen hat diesen Keim aus Dir in  Henriette Pauline Marianne von Willich [Schließen] Jettchen wieder zu entfalten.  Aber mache Dir keinen Vorwurf daraus. Wer müßte nicht erschrekken vor dem Gedanken Vater oder Mutter zu werden wenn es der Natur gefallen könnte irgend etwas einzelnes aus dem Gemüth in einem Kinde zu isoliren. Ach einzige Jette und niemand mehr als ich, in dem alles Verderben stekt ohne Ausnahme! ich müßte mich fürchten mich liebend in Deinen Schooß zu senken, und grade je mehr Du mich liebtest und mein Wesen in Dich aufnähmest um desto mehr müßte ich mich fürchten. Das wäre ja die schreklichste Art wie  Ex 20,5 [Schließen] Gott die Sünden der Väter heimsuchen könnte an den Kindern, und es wäre keine gerechte, als nur da wo eben die Natur nichts nehmen kann aus dem Wesen der Eltern als Sünde. Darum aber hast Du nun auch keine Schuld, denn Du siehst ja schon daß auch von demjenigen aus Dir in Henrietten ist kraft dessen Du das holdeste anmuthigste lieblichste Wesen bist. Aber allerdings glaube ich daß Henriette mehr Aehnlichkeit mit Dir haben wird als mit  Ehrenfried von Willich (d. J.) [Schließen] Ehrenfried im Innern, Du hattest sein Wesen damals nicht so in Dich aufgenommen daß es sich hätte übertragen können auf ein Wesen Kind Deines Geschlechtes; aber  der verstorbene Ehrenfried von Willich [Schließen] Ehrenfrieds Antheil prägt sich aus im Aeußeren. Dasselbe gilt nun umgekehrt von Ehrenfriedchen; in ihm wird des Vaters Sinn gewiß sehr vorwalten wiewol nicht so entschieden als Deiner in Jettchen , aber das Aeußere wird er von Dir haben, wie denn schon unverkennbar | 42v Deine Hauptzüge in seinem Gesichte liegen. – Das sind alles Züge aus meinen tiefsten Anschauungen von Liebe und Ehe; aber ich habe das alles doch nie so klar gesehen als jezt, da ich sie selbst als mein Eigenthum ansehe und der schönsten seligsten Hofnungen lebe.

Ich möchte noch mehr mit Dir plaudern aus Deinen Briefen süße Jette aber ich muß wol zu Bette gehn. Schlaf süß meine Holde und laß Dir die geschlossenen Augen küssen mit den dunkeln herrlichen Wimpern und die duftenden Lippen und die ruhig sich hebende Brust. Aber das sage ich Dir Kleine mache auch daß ich morgen einen Brief bekomme, ich habe schon vorigen Posttag keinen gehabt. Heute hat man hier ein Gerücht die Engländer wären bei Euch gelandet; das wäre wol sonst amüsant genug aber die Post ginge dann nicht und das wäre höchst fatal.



Ein kleines wenig muß ich jammern liebste Jette daß der Briefträger nicht erschienen ist aber glaube nur nicht daß ich über Dich klage. Wie leicht hat Deine Reise Dich außer Stand sezen können einen Brief abzuschikken in dem schönen Lande wo leider der Postenlauf so sehr beschränkt ist. Geschrieben aber hast Du mir gewiß und die lieben Blätter liegen und harren. Hast Du doch auch ohne meine Schuld manchmal länger entbehren müssen. Bist Du erst wieder in Poseriz so geht alles wieder ordentlicher. Ich dachte ich wollte noch Zeit finden an  Luise von Willich [Schließen] Luise zu schreiben aber ich bin sehr gestört worden diesen Morgen. Grüße sie mir doch herzlichst wie alles um Dich her. Nächsten Posttag schreibe ich auch unserer großen Jette wieder. – Das ist doch herrlich daß wir auch in dem unbeschrenkten Vertrauen zu ihr so ganz übereinstimmen, Du hast Recht ihr alles ohne Ausnahme und Einschränkung mitzutheilen ich wüßte auch nicht was mir jemals ein Bedürfniß sein könnte ihr zu verheimlichen. –  Sachanmerkung:

Unsere ... für Dich.] 
Vgl. Brief 2873.

Lotte] Chartlotte Schleiermacher
 [Schließen]
Unsere Lotte hat meine Antwort nicht abgewartet, sondern an demselben Tage wo mein Brief an sie mit Deiner Einlage abgegangen war erhielt ich schon wieder einen von ihr voller Freude und Theilnehmens, und Liebe für Dich.
Was wird die glüklich sein wenn wir es wirklich ausführen sie zu besuchen.  Du glükliche wie vielen Menschen machst Du Freude dadurch daß Du Dich mir gegeben hast! in was für eine schöne Welt wirkt unser neues Leben ein, und was für ein Mittelpunkt wird es sein von Liebe und Lust. Wenn Du  Gemeint sind wahrscheinlich Luise von Mühlenfels, spätere Benda und Pauline Hochwächter.  [Schließen]Deinen beiden Schwestern schreibst so grüße sie doch herzlich und danke ihnen sehr in meinem Namen für die Freundlichkeit und Güte mit der sie mich aufnehmen wollen[.] Die schönsten Küsse Dir von

Deinem Ernst.

 am linken Rand [Schließen]Dies ist nun der zweite Sonntag ohne Predigt und erst heute über 14 Tage predige ich wieder einmal. Nanny grüßt – die Kinder küsse mir recht zärtlich und wenn Friedchen recht unbändig ist so rufe ihm bravo zu in meinem Namen

Zitierhinweis

2898: An Henriette von Willich. Berlin, Sonnabend, 29.10. bis Sonntag, 30. 10. 1808, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0006727 (Stand: 26.7.2022)

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