Göttingen den 2 Octb. 1808.

Wie oft und eifrig hat sich der Wunsch wiederholt, Ihnen schriftlich etwas mittheilen zu dürfen von dem, was sich in mir nach und nach und in der langen Entfernung von Ihnen angehäuft hat. Warum die verzögerte Entladung sich gerade zu Ihrer Person hinzuwenden Versuche machte, sahe ich selbst nicht ein und schien mir dies ohne Befugniss zu geschehen; und dennoch erscheint nun wirklich ein kleiner Funken, der gerne die Spannung, aus der er geschaffen wurde beurkunden möchte. Vor mir schweben indessen aus älterer und neuerer Zeit allerhand hellscheinende Lichter, die Sie zündeten und die in schöner Ruhe vor aller Augen und in vieles Erkennens Schiksal sich bewegen. – Wie sehr musste es mich freuen, Ihren Namen mit einem besondern Nachdruk und einer vorzüglichen Aufmerksamkeit aus so vieler Munde und an so verschiedenen Orten genannt zu hören. Unter die, welche ich Ihnen aus den vielen anführen darf, gehört ganz vorzüglich ein hier lebender Professor Herbart, der in dem gelehrt-fleissigen Göttingen fast einzig den spekulativen Trieb zu beleben weiss, während die übrigen grösstentheils in den bequemen Mantel altes Herkommens, theils aber auch in den Schein moderner Ausdrükke sich verkriechen. Mir ist er schon deshalb ein merkwürdiges Wesen, weil er mir in früher Zeit vor allen andern in philosophischer oder dialektischer Härte und Eigenthümlichkeit erschien, ohne dass ich selbst recht wusste, was ich sah. Dieser nun weiss seine Bewunderung für Sie kaum genug zu Tage zu geben; die Strenge des Verstandes, die Klarheit, die Gesundheit der Anschauungen, die lebendige Gelehrsamkeit und vieles andre sind ihm einzige und unvergleichliche Eigenschaften an Ihren Produkzionen. Und dennoch stimmt er in der Hauptsache gar nicht mit Ihnen. Einen grossen Haufen von jezt wissenschaftlich thätigen Männern Deutschlands sieht dieser Razionalist an, als solche die nicht | 3v zu denken vermögen; er möchte, scheint es, diese ganz wie Wahnsinnigen und auch das was sie wollen und nicht erreichen wie ursprüngliche Verkehrtheiten verwerfen. Nicht etwann werden Sie auf entfernte Weise unter diese gesezt – wie sollte sich damit seine höchste Achtung vereinigen? – und doch sollen Ihnen von der Zeit und ihrem seltsamen Geiste so viel zugeflossen sein, dass darüber der reine und höhere Weg nicht betreten werde, auf dem das Denken selbst allein sein Ziel erreiche, und statt diesem treu zu bleiben werde eine Idee geistreich aufgestellt, aber nicht verfolgt, sondern in die Engen des Realen und der Geschichte getrieben und ausgebreitet. Der Ausspruch war mir so überraschend und scharf, dass ich bei einer nicht geringen Unbekanntschaft an philosophischen Individualitäten von der Unbegreiflichkeit des Mannes mich kaum erholen konnte. Er ging aber noch weiter, denn eine Selbstverleugnung wollte er an Ihnen nicht wenig rügen, die sich mit der übrigen Gewalt des Geistes schlecht vertrage, so sei Fremdes eingemischt in die Ansicht und in die Arbeit, wo nur der freie und selbstständige Blik ausreiche um etwas Reines und Vollendetes zu geben; kurz (Sie werden sich nicht wenig verwundern) man habe Ihnen die Brille des Spinoza aufgesezt und diese werde weder bei Untersuchung allgemeiner Gegenstände, noch bei Prüfung anderer ganz aus den Händen gelegt. – Einige Tage zuvor hatte ich mit ihm über etwas geredet, über das er Kenntniss und Einsicht besizen mag, so wie es mir an beiden gebricht, nämlich über Strafen und vieles, was er damals sagte, wurde mir erst recht klar durch das spätere Urtheil; denn gewaltig gebährdete er sich gegen die Ansicht, sie als Akte der Besserung anzusehen und die Fehlenden als unmündige, der Erziehung des Staats zu | 4 Übergebende; den Grund des Wiedervergeltungsrechts suchte er mir klarzumachen, sprach von einer Menge von juridischen und Staatsverhältnissen und besonders von der Idee der Nemesis, als einem wesentlichen Gebiet in der Konstrukzion des Staats, das sie überall eintrete, wo das Verhältniss der Bildung nicht ausreiche, wodurch er also schon zu erkennen gab, dass er jenem: alle wahre Thätigkeit und Äusserung des Staats sei Bildung nicht beistimme und den Werth der Kultur nicht gleichermassen erkenne und ausdehne, wie andre Weisen es zu thuen Grund haben. –

Vielleicht aber habe ich Ihnen schon zu viel gesagt von einem Manne, der Sie auch gar nicht weiter interessiren könnte, ich müsste mich aber gar zu sehr trügen, wenn sein strenges Wort und Thuen nicht seinen Werth besässe. – Vor wenigen Tagen fand ich ihn sehr freundlich, denn im Ganzen kann er einige Starrheit nicht verleugnen, weswegen er preziös genannt wird von den Leuten; er erzählte mir mit grossem Jubel, wie er heute in einem Tage krank und geheilt worden sei, erstes durch eine Psychologie, die er verbunden gewesen, zu durchgehen und leztes durch Ihre  Friedrich Schleiermacher: „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn“ (1808, KGA I/6, S. 15-100)  [Schließen] Gedanken über Universitäten , mit denen er nicht allein ganz einstimme, sondern in denen auch keine Spur von den übrigen Sie sonst so sehr auseinander spannenden Gegenständen zu finden sei. Nur wunderte mich, dass er sich so ganz gefallen liess das durchgehende Hinweisen bei der Bildung Studirender auf die Übung im Denken an den Gegenständen und auf das nur verbundene Betrachten des Idealen und Realen. – Er möchte ausserordentlich gerne Ihrer ansichtig werden, recht eigentlich um Sie zu sehen, auch nicht um Sie zu verbessern, denn der einzige Weg, den er hierin für möglich hielt, schien ihm der, mit Ihnen die Denker aller Zeiten zu durchgehen und in allen die Punkte ihrer Irrthümer auszuheben, woraus sich ein grosses Gesez entwikkeln würde. – Doch auch das könnte ja wohl nur ein frommer Wunsch bleiben und die Punkte nicht die Punkte der Vereinigung werden | 4v

den 3. Octbr.

Ich kann nicht genug preisen den kurzen, stillen und überlegsamen Aufenthalt, den ich hier im  lies: Angesicht [Schließen]Angesich von vielerlei Schriften und wenig auserlesenen Menschen mache. Es ist mir, als erhielte ich erst hier die gründliche Bestätigung von meinem Zurüksein im lieben Vaterlande; wohl ist mir das Gefühl davon schon früher gekommen, aber hier weiss ich es und alles sagt es mir. Denn so kalt Frankreich mich überrascht hat, so trunken und freudig wurde mir auf dem Rükken der Alpen und in der leichten Luft von Italien . Und obgleich mein Weg nun mitten durch die Landesleute führte und durch genugsam genannte Städte unserer Nazion (in denen freilich im Ganzen mehr die Wissenschaften als die Wissenschaft getrieben wird, wie dies dem Süden eigen ist) ja obgleich ich echt deutsche Arbeit trieb, betrachtend in der Schweiz den seltsamen Bau der dortigen Gebürge, in München in der Behausung des treuherzigen Ritters bei vielerlei Versuchen, in Verwunderung über den Kunstreichthum unserer Vorfahren in   Gemäldegalerie im Münchner Hofgarten, zu der 1805 die bedeutende Düsseldorfer Kunstsammlung hinzugekommen war, späterer Grundstock der Münchner Pinakothek. [Schließen] der dortigen Samlung , der sich keine andre in dieser Hinsicht vergleichen darf, obgleich endlich noch so ganz in deutsche Kreise verwikkelt in Franken (in dessen liebliche abgeschlossene Thäler kaum die Zeichen des Krieges, wie durch die doppelte Mauer des thüringer Waldes und der Rhön abgehalten, gedrungen waren, woher die Bewohner nicht ungeneigt sind,   wohl eine unklare Anspielung auf den französischen General Jean-Baptiste Jourdan  [Schließen]ihren zweiten Jourdan aufzusuchen) unter Verwandten und Freunden, aus denen man mich nur mit Schwierigkeit wieder freigab – troz allem diesem hat mich jezt erst die langdauernde Trunkenheit ganz verlassen, wenigstens musste ich bis hierher wandern, um mich ganz heimatlich zu befinden und recht klar zu wissen, welcher lieber Boden mich wieder trägt. Fast freilich ist es natürlich, dass man sich fremd fühlt, wenn man das baierische Land in seiner Länge durchreist, in dem alles ist wie in einer | 5 zahmen Wuth oder einer rasenden Ordnung. Stille Seufzer und kriegerischer Übermuth, neuwissenschaftlicher Glanz und altrohe Bigotterie und wie alle die zusammengebundenen Widersprüche und Komposizionen dieses Landes heissen, lernen sich nebeneinander ruhig zu sehen und treten gleich gewichtvoll hervor. Der nachfolgende Aufenthalt war ein Tummel- und Taumelplaz für Feste und geselligen Verkehr und mir nicht weniger gefährlich, als dem  Anspielung auf den 10. Gesang der Odyssee  [Schließen]herrlichen Dulder sein Zögern auf der reizenden Insel der Göttin. So konnte ich mich noch nicht als zu Hause gekehrt ansehen wo es schön und fruchtbar unter vielen, aber nicht allein und mit den eigenen Gedanken, denn die Mittel zum Studium und zum ersprieslichen Alleinsein waren nicht versammelt. Hier in der deutschen Universität fühlt sich wieder frei und selbstständig der umhergetriebene, mit den einzelnen Dingen verkettete Geist. Was konnte an solchem Orte würdiger aufnehmen und von neuem mehr weihen als Ihre Schrift über deutsche Universitäten, deren Sohn zu sein nicht geringen Stolz verdient? –

Von den übrigen Einrichtungen und Neuerungen, die hier umher das Land betreffen, weiss ich wenig zu sagen; viele von ihnen sind so höchst betrübt, dass wer nicht thätig auf sie mit wirken kann oder muss am besten auch nicht das Wort über sie führt; doch mögen viele von jenen zu dem hinleiten, was der Geheimrath Schmalz in Berlin so gerne damals prophezeit hat, denn die ganze Einrichtung | 5v des Abgabenwesens scheint auf den Untergang des Vermögens der einzelnen hinauszulaufen und bei allem dem wird sich schwerlich der Regent dabei bereichern, sondern fortfahrend im angefangenen Verpfändungssystem wird er sich nach und nach gleichstellen jenen süddeutschen Monarchen, von denen gesagt wird, der Besiz ihres Landes verkaufe sich immer mehr und mehr in die Hände einzelner reicher Juden. – Auch Sie müssen in noch immer ungewissen Aussichten vieles zu beklagen finden, während überhaupt die Existenz und Erhaltung Preussens so dunkel zweifelhaft als schwierig daliegt; – doch hörte ich alles das so gerne aus Ihrem eigenen Munde und wie wenig daran fehlte dies Vergnügen zu geniessen und die mir so sehr liebgewordene Stadt wieder zu sehen, mögen Sie sich selbst vorstellen. Dennoch war diesmal noch nicht meine Stunde, besonders da eine solche willkürliche Ausdehnung meiner Reise nach so vielen unwillkürlichen Verzögerungen fast unverantwortlich wäre in Hinsicht meiner übrigen Vorsäze und arbeiten, die ich für den Augenblik nur in Bremen ausführen kann. So versage ich mir das Gute und verlasse schon in wenigen Tagen diesen Ort. –

Erhalten Sie mir Ihr gütiges Andenken, auch bittet Voss darum, der hier schon einige Zeit lebt. Auch Ihre Schwester, die Herz und die übrigen bitte ich zu grüssen

A Müller.

Zitierhinweis

2851: Von Adolph Müller. Göttingen, Sonntag, 2.10. bis Montag, 3. 10. 1808, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0006680 (Stand: 26.7.2022)

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