Cassel den 22ten Juny
Ich konnte Ihnen von
Giebichenstein
aus nicht mehr schreiben, bester Schleiermacher es war mir
als müste ich mich ohne Abschied von Ihnen trennen, dies
Gefühl hat mich auf der ganzen Reise begleitet und auch hier
noch werde ich nicht eher ganz zuhause sein bis ich mich einmahl
wieder recht von Herzen mit Ihnen habe besprechen können
und von Ihnen einen Beweis Ihres freundlichen
Andenkens erhalten habe. Daß es uns Gottlob in jeder Hinsicht hier weit
besser geht als wir erwarteten haben Sie wahrscheinlich Gemeint ist Luise Reichardts Halbschwester
Friederike Reichardt und Brief
2753 an Schleiermacher vom
22. 6. 1808. [Schließen]durch meine Schwester
gehört. Wir sind alle
vereint bemüth uns unser altes schönes Leben auch hier so
viel als möglich zuerhalten, und haben
äusserst wenig Bekantschaften gemacht, bey Hofe garkeine
und dabey wollen wir auch bleiben. Die herrlichen
Gegenden erleichtern uns den Verlust des lieben
Gartens, besonders schön ist die Aue da wandern wir
zuweilen Sontags | 20v früh hin und suchen uns ein stilles Pläzchen um eine Ihrer
schönen Friedrich Schleiermacher: „Predigten.
Zweite Sammlung“ (1808) [Schließen]
Predigten
zu lesen, und
die Vögel singen aus tausend Kehlen vielstimmige Choräle
dazu. Ich sehe lieber Schleiermacher daß man wenn mann es
nur recht anzufangen weiß überall glücklich sein
kann. Es hat uns den Eintritt in Kassel sehr erleichtert
daß wir wenige oder gar keine Bekanten hier vorfanden
und wir nicht, wie wol an andern Orten
geschah, ehe wir noch den Lieblings-Auffenthalt
etwas verschmerzt hatten, und uns fassen konnten, von einem
Schwarm gleichgültiger Menschen umgeben waren von denen
mann sich hernach nicht so leicht wieder losmachen kann. So
leben wir fast ganz uns selbst; Sachanmerkung:
Bülows, ... und erzieht.]
Ludwig
Friedrich Victor Hans Graf von Bülow war von 1808-1811
Finanzminister Westphalens in Kassel und ein Freund der Reichardtschen
Familie.
kleine] lies: [die] kleine
[Schließen]
Bülows, die sich sehr lieb und hülfreich
gegen uns genommen sind die einzigen mit denen wir
eigentlichen Umgang haben, doch auch diese sehn wir selten weil die
Hoff-feeten(?), denen er als Minister nicht
ausweichen kann ihnen viel Zeit kosten.
Sie haben allerliebste Kinder
die | 21
kleine
Frau
ganz bürgerlich Mütterlich um sich hat
und erzieht.
Das französische Theater und die Messen
und Hoffconzerte wozu immer die Proben bey uns
gehalten werden machen mir große Freude und ich lebe
einmahl recht im Ueberfluss von Musick. Wir haben einige
vortreffliche Sänger und Sängerinnen was mir bey
dem Unterricht für meine Schwestern sehr
zustatten kommt. Auch wohnen wir sehr angenehm und waren
erstaunt überrascht ein vollkommen eingerichtetes Quartier
bey unserer Ankunft zufinden, der gute Vater hatte mit
Hülfe einer braven Frau, die
uns nahe wohnt, so für alles gesorgt daß ich vom ersten
Tage an ohne die geringste Unbequemlichkeit selbst kochen
konnte und so gleich mich etwas
häuslich fühlte. Es fehlt uns
nun nur daß wir erst einige recht liebe Gäste in unsrer
Wohnung bewirthet haben um sie uns ganz lieb
zumachen, wie oft wünschen wir Sie zu uns,
bester Schleiermacher, Sie würden alles noch so finden wie
zuhause und wie wollten wir Sie pflegen. Mich | 21v
verlangt nun unbeschreiblich auch recht zu hören wie es
Ihnen in Berlin
geht ob Sie dort bleiben und was Sie sich von der
Zukunft versprechen.
Ich höre die Herz
komt zurück dazu wünsche ich Ihnen herzlich glück ich
habe der lieben Frau neulich mit einer Gelegenheit
geschrieben.
Leben Sie wohl bester Schleiermacher und erfreuen Sie mich bald mit einigen Zeilen. Meine Eltern grüßen Sie herzlich, der Vater ist sehr zufrieden mit seiner Lage und von seinen Untergebenen auf eine schwärmerische Weise geliebt und geachtet was ihm seine Stelle sehr lieb und angenehm macht. Darff ich Sie bitten Zelter herzlich zu grüßen und die gute Anne (Nanny) Schleiermacher [Schließen] Nanny nicht zuvergessen wir denken Ihrer mit der herzlichsten Liebe
Ihre Louise R.Zitierhinweis
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