Hamburg Sonnabend d 31t Abends

Ja wenn ich nun nur nicht mit eingetrokneter Wirthshaustinte schreiben müßte! Das ist eine von den schwer zu überwindenden Kleinigkeiten! Auch die Feder taugt nicht viel, die ich eben jezt bei Licht geschnitten habe, und meine ganze Relation wird etwas nach beiden schmecken. Du siehst schon aus dieser Vorklage mein Herz, daß bedeutende Unfälle nicht eingetreten sind; aber einige Abentheuer haben wir doch bestanden. Dicht vor der Abreise habe ich dir noch geschrieben und um 7 Uhr Mor gens am Mittwoch waren wir glüklich am Oranienburger Thor. Das Wet ter war mittelmäßig und hat sich auch so gehalten; viel Regen haben wir nicht bekommen. Wir entschlossen uns desto leichter da ich mich sehr gut befand die erste Nacht durchzufahren, das Quartier wäre ohnedies nur schlecht gewesen in Kyriz. Aber als wir Morgens um 4 Uhr auf der näch sten Station ankamen war unser Koffer verschwunden. Man sah deutlich, daß er nicht gestohlen war, sondern die Eisen waren heruntergebrochen und so war er abgefallen ohne daß man es bei dem sehr starken Fahren bemerkt hätte. Reimer | 11v nahm gleich eine Extrapostkutsche und fuhr zu rük, um 9 Uhr hatten wir auch schon Nachricht daß der Koffer gefunden und auf der lezten Station abgegeben sei. Aber Reimer konnte doch erst um 12 Uhr mit ihm zurük sein; wir hatten also Acht Stunden verloren, und beiläufig hat uns die Geschichte an 15 r gekostet. Abends kamen wir dann nach Lenzen aber zu spät um noch zu Neuendorf zu fahren erfuhren auch zu unserm Schrek daß wir von dort wieder durch Lenzen zurük mußten, so daß uns das auch einen ganzen halben Tag gekostet hat; aber der guten Neuendorf war zu herzlich und zu gerührt, als daß es mir hätte leid sein sollen. Die Nacht vom Freitag zum Sonnabend sind wir nun wieder durchgefahren. Die schlimmste Zeit, nemlich die Morgen und Abendkühlung, hätten wir doch durchfahren müssen; also fand ich gar keine Bedenken dabei und hüllte mich in den großen Mantel, aß Abends die Fischersche Kamillensuppe, nahm ein Paarmal bei kleinen Anfällen die vorgeschriebenen Tropfen mit sehr gutem Erfolg und bin um 10 Uhr diesen Morgen so glüklich angekommen daß ich ohne alle Beschwerde den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und noch um SonnenUntergang auf der Alster gefahren bin.Menschen habe ich noch nicht gesehn außer Luise Reichardt D. Sieveking und der Perthesschen Familie. Morgen Mit tag aber sollen wir in Flotbek sein in dem Sievegingschen Cirkel wo es | 12 allerlei interessante Menschen geben wird. Heute sind wir nur umherge laufen in der Stadt auf der Börse im Hafen. Hamburg macht einen schö nen Eindruck von Lebendigkeit und großem Getriebe es scheint in dieser Hinsicht größer als Frankfurt, was schon das Seewesen mit sich bringt, auf der anderen Seite aber minder alterthümlich und geschichtlich. – Nanny war hier (wir logiren nemlich weil es nicht anders geht in 3 Zim mern) und hat geklagt es sei doch eigentlich eine eklige Reise, hat auf Reimer geschimpft der ihr zuviel gezankt hat mit dem Postillion, und meint, es sei nichts, wenn man niemand habe, an den man sich recht halten könne. Mir vergeht nun gleich alle Lust sie zu beklagen wenn sie sich auf ihre mißmüthige Art äußert, und so ist sie etwas verstimmt fort gegangen. Sie war übrigens auf der Reise lauter Aufmerksamkeit und Güte für mich.

Gute Nacht liebes Herz ich will nun zu Bette gehn und alles aus schlafen wiewol ich es an schlafen freilich auch auf dem Wagen nicht habe fehlen lassen. Wo ich Dich nun suchen soll, und wann ich wieder von Dir hören werde weiß ich leider gar nicht. Desto mehr bin ich in Gedanken bei dir und werde auch noch manches Wörtchen schreiben da der Brief erst Dienstag nach uns von hier abgehn kann.

Dienstag d 3t. Morgens. Es ist denn doch in dem Getreibe nichts weiter geworden mit Schreiben. Für diesen Morgen sind noch eine Menge von kleinen Besorgungen rükständig geblieben, und ich will froh sein | 12v wenn mir die Leute nicht noch große Besichtigungen zumuthen zu denen ich durchaus keine Lust mehr habe. Uebrigens ist es ganz leidlich gegangen; ich habe mich allem Wetter und Luft ausgesezt zu Land und zu Wasser, Gestern sogar an Einem Tage einem Diner und einem Souper, und ich will nicht sagen daß ich gar keine Beschwerde empfunden hätte – besonders von Abendluft und Zug auf dem Dampfschiff und auf der Rükfahrt vom Sievekingschen Landhause am Sonntage; aber doch nicht bedeutend und nicht so daß ich hernach im mindesten angegriffen gewesen wäre. Wir reisen nun heut Mittag ab so daß wir die Nacht schlafen und Morgen bei guter Zeit  über der Zeile ⎡vor Mittag in Kiel sind. Von dort oder von Lübeck aus schreibe ich Dir gewiß noch einmal. Meiner jezigen Berechnung nach treffen wir den 13ten oder 14ten in Stralsund ein wo ich endlich von Dir zu hören hoffe.

Der Willich Schwester welche wir noch mitnehmen sollten kommt nicht mit. Nanny und Friede grüßen herzlich Lezterer hat sich ja ganz gut aufgeführt

Gott behüte Dich mein einziges Herz

Dein alter treuer

Zitierhinweis

4293: An Henriette (Jette) Schleiermacher. Hamburg, Sonnabend, 31.8. bis Dienstag, 3.9.1816, ediert von Simon Gerber und Sarah Schmidt. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0009554 (Stand: 26.7.2022)

Download

Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen.