Lieber Schleiermacher! Du hast Grund mit mir unzufrieden zu sein. Aber hast du es besser gemacht? Habe ich nicht Monathe lang auf Nachrichten von dir warten müssen? Du berufst dich auf deine viele Geschæfte – Gut das kann ich auch mit vollem Rechte. Erstens ich bin im Senat. Ein greuliches Sammensurium von doppeltem Schlendrian – Bis jezt bin ich der einzige, der sich diesem Schlendrian entgegengestellt hatt. Ich habe darauf gedrungen, dass man den frankfurter Senat als aufgehoben betrachten müsse, dass man den ganzen von daher gebrachten Schlendrian vernichten, dass man sich neu organisiren müsse, dass man sich regelmæssig versammeln solle – Die Frankfurter sind hier die ærgsten – Træge, unbehülflich, eigensinnig, unzufrieden, ohne allen wissenschaftlichen Geist. Mir helfen zwar einige. Augusti, Schulz, Schneider, Link – Aber die Leute sind gleichgültig, und eine alte Nachtmüze, Behrends, imponirt sie – Lei- der soll dieser bei Schuckmann viel Einfluss haben. Es ist der ärgste, crasseste Empiriker, der sich damit grossthut, dass er nichts von dem weiss, was in den lezten zehn Jahren in der Medicin geschehen ist, der eigentliche berüchtigte Fabricant der saubern frankfurther Doctoren, und es ist durchaus nothwendig sich gegen ihm zu stellen. Uhden hat mir Gelegenheit verschafft meine Meinung über die hiesige medicinische Facultæt zu sagen. Es ist ein Greuel. Auch an Schuckmann und Süvern schreibe ich darüber. Ein alter hypochondrer Chirurgus, der Vorsteher | 63v der hiesigen Pepiniere ist der einzige Anatom – Rudolphi, der sich wohl hüten wird einen Mann vorzuschlagen, der sein Rival ist, oder werden könnte, hatt uns einen jungen Mann auf den Hals gebracht, der ohne Kenntnisse, ohne Fæhigkeit ist. Es ist ein Jammer ihm sprechen zu hören. Behrends protigirt ihm. Die Berliner Professoren Vorschläge für die hiesige Universität machen zu lassen heisst doch recht eigentlich den Bock zum Gärtner machen. – Ich habe noch einmahl dringend den Meckel vorgeschlagen. Was du kannst bitte ich dich beizutragen, dass es durchgeht. Die Physiologie steht hier in der Luft und meine eigne anatomische Kenntnisse drohen verloren zu gehen. Meckel war mein steter Lehrer. Und endlich, was kann ich erwarten, wenn die medicinische Facultæt nur eine jämmerliche Pepiniere ist. Alles dieses hat mich nun viel [zu] schaffen gemacht. Ich dringe täglich in der Commission, ich suche die Blöcke bei der Universitæt für mich zu gewinnen

Zweitens, für meinen Würkungskreiss war hier nichts geschehen. Drei Treppen hoch, unter das Dach hatte man ein Local für die Physik ausgesucht. Ich verwarf es durchaus. Ich möchte ein anderes aussuchen, wo der Professor der Physik und Chemie zusammen wohnen könnten. Das breitere wird dir ein weitläufiges Promemoria an das Departement zeigen können. Ich kann keine Physik lesen, und ich beschwöre dich, bei allem was heilig ist, dass du dafür sorgst, dass die Anstalten so bald wie möglich getroffen werden. Ich würde im höchsten Grade unglücklich sein, wenn ich nun Professor der Physik lächerlicher Weise hiess, ohne sie vortragen zu können. Auch hängt der ganze Ruf der Universitæt davon ab, dass nicht ein ganzes Jahr ohne so wesentliche Vorträge vergeht. | 64

Drittens ich habe, wie du vielleicht schon vernommen hast, ein grosses und ansehnliches Auditorium. Ich kündigte meine Vorlesungen in der Aula an, und hatte vielleicht in den lezten Stunden – 7 bis 800 Zuhörer. Ich las vier Stunden öffentlich. Von den Studenten habe ich 20 Zuhörer. Aus der Stadt 90 – Diese Vorlesungen erforderten, besonders im Anfange viel Zeit, und ergözen mich

Viertens – Zwei Verleger plagen mich – Einer, der einen kleinen Aufsaz haben will, der zweite der den zweiten Theil meines Handbuchs fertig verlangt

Fünftens – Ich habe mich einrichten müssen und hatte in den ersten fünf Wochen nicht einmahl ein Pult.

Alles dieses entschuldigt mein Stillschweigen und schildert meine Lage. Im Ganzen angenehm, wenn ich darauf rechnen darf, dass meine Vorschlæge angenommen werden. Das Geld was mir meine Vorlesungen eingebracht hat – ein 400 rthr sezte mich in den Stand meine ganze Einrichtung hier zu vollenden ohne Schulden, ja einiges ist für die Gläubiger zurückgelegt. Meine Vorlesungen ergözen mich. Hanne ist leidlich zufrieden, wenigstens in sofern sie ihre Schwester hat, und wir uns leidlich haben einrichten können – Die vielen Geschäfte, die mannichfaltigen Zerstreuungen haben uns zwar noch nicht daran denken lassen einen festen Umgang mit jemand zu etabliren, indessen hoffe ich, dass es sich geben wird. Noch haben wir keinen Menschen bei uns gesehen – Mit Gass und Heindorf hoffe ich, dass es sich soll machen lassen, vielleicht auch mit Augusti, wenn die Frau nur nicht so unangenehm wære. Die Professoren errichten unter sich einen Klub. Die hiesigen Einwohner machen viele Prætensionen auf Umgang, die ich wenigstens nicht erfüllen  korr. v. Hg. aus: wærewerde. Der æltere Raumer mit | 64v seiner Frau steht noch im Hintergrunde, verschlossen und fremd – Unser Raumer ist ganz unser. – Leider bringt Schulz euch diesen Brief, Ich habe ihm sehr lieb gewonnen. Hätten wir ihm nur behalten können – Er hat sich in der That grosse Verdienste um die Sicherstellung der Fonds erworben. Wenn ich nicht irre, ist ihm aber Schuckmann nicht gut.

Nun lieber Schleiermacher lass uns bald wissen wie ihr euch befindet – Wie lange haben wir nun nichts von einander gehört! Dann sag mir auch, wie sich Reimer mit seiner Familie befindet – sag ihm, dass ich bald schreiben werde, nur heute war es mir nicht möglich. Ich habe fünf Briefe zu schreiben – Grüss deine liebe Frau und Nanny tausendmahl und behalt mich lieb

dein HSteffens

[Johanna Steffens:] Es scheint mir eine Ewigkeit, lieber Schleier seit wir Nichts von Euch gehört, und doch liegt wohl die Schuld an uns, ich bin überhaupt eine große Sünderin lieber Schleier  korr. v. Hg. aus: dasdaß ich Ihnen nicht für den ganz wunderschönen Schaal gedankt habe, wie ich mich darüber gefreut, hat Steffens geschrieben, auch  korr. v. Hg. aus: dasdaß Ihr Steffens so freundlich bey Euch aufgenommen war eine große Freude für mich, es wäre wohl schön wenn wir nach Berlin gekommen, es will mir hier nicht gefallen,  korr. v. Hg. aus: dasdaß Steffens leidlich zufrieden ist, ist das einzige Gute, Umgänge haben wir noch nicht, genauen heißt das, denn Menschen sehn wir leider genug, vieleicht wird es noch besser  korr. v. Hg. aus: dasdaß wir Schultzens verlieren ist ein Unglück. Lebt wohl liebe Freunde, wie geth es dir liebe Nanny? –

Zitierhinweis

3711: Von Henrich und Johanna Steffens (auch an Anne (Nanny) Schleiermacher). Breslau, vor dem 10.12.1811, ediert von Simon Gerber und Sarah Schmidt. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0009326 (Stand: 26.7.2022)

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