Von der guten Wunstern erhielt ich an eben dem Tage einen Brief – einen recht dringenden – doch gewiß mit JahrMarktsLeuten nach Breslau zu komen – Die Schilden wurde darin namentlich ersucht, als ich eben ihrer Schwester Schmidt – bey welcher ich auch logiren solte – alles von meinem Nichtkomen auseinandergesezt hatte – die gute Wunstern! Wer weiß – lebt sie künftiges Frühjahr noch – auf welches mich mein Chef vertröstet hat – ich will dann gleich nach den Feyertagen – hin – wenn ich anders noch lebe – es wäre doch merkwürdig – wenn der Selgen Mutter Worte: Lotte! sieh dich noch mahl recht um – Du siehst diese Stadt nie wieder – in Erfüllung giengen – so sehr ich dagegen seit einigen Jahren arbeite –! Die Wunster ist durch und durch erfreut über deine Bekantschaft – es war ihr beym ersten Anblik als sey sie immer um Dich gewesen – das macht die Sympathie – Uns Beyden kam es gewiß nie aufs viele wißen ann – sondern daß der Geist sich bilde und reife – daß wir auf Andre nüzlich wirken – daß sie sich wohl fühlen in unsrer Nähe – sie war sehr betrübt | 25v Dich nicht noch bei Gass gesehn zu haben – ihre Freunde waren Alle in Deiner Predigt (von welcher ich auch durch die Loeuwen der Bertram ihre EnkelTochter viel schönes gehört habe) aber diejenigen welche sie von Dir las gefielen ihr doch beßer nach ihrer Aufrichtigkeit – eine Frage hatte sie an Dich – die sie mir jezt aufgetragen hat – ob Du nicht – noch ganz nach Breslau an die dortige Universitaet komen würdest – es war mir eigen als ich dis las – – mir würde diese Nähe nicht viel helfen – Du würdest Dich glaube ich schlechter befinden – als ich es für dein ganzes Wesen wünsche – dann eine Bitte von der Wunstern die ich dir wörtlich hersage – weil ich sie wirklich nicht verstehe – Daß Du deine bürgerliche Freiheit mehr schonen mögtest – damit Dein Geist noch mehr des Guten wirke – auch aus Liebe für deine Geliebten – möchtest du mir dis doch erklären – – Noch kan ich dir sagen mein Lieber daß mir irgend ein neuer Stern aufgegangen ist – meine trüben WinterTage zu verschönern aber – | 26 ich fürchte und ahnde vielleicht mit Recht – daß mir diese lieben Menschen zu denen ich mich ihrer Jugend unbeschadet sehr hingezogen fühle mir mehr Quall als Freuden schaffen werden, weil Verhältniße Geschäfte – kurz mancherley Schwierigkeiten mir das ordentliche Zusamenkomen mit ihnen erschweren werden – dazu komt noch die Ueberzeugung – daß es nicht möglich daß ich ihnen nur halb so angenehm erscheinen köne wie sie mir – es überhaupt lange dauert – ehe ich mich einiger Gegenliebe versichern kann – ich wünschte mein Verstand hätte bald mein Herz überwunden und ich ließe mich genügen – sie nur auf dem Clavier spielen und singen zu hören – worin die Jüngre 21 Jahr ganz Meister istAutorfußnote (am linken Rand)Seit ich dieses schrieb – bin ich inne geworden – daß die aelteste ganz vortreflich Corale spielt – ich wünschte Dir Beide zu hören⎡am linken Rand von Bl. 26 – wie wir denn überhaupt einige musicalische Schwestern in der Stube haben – und mann deshalb sich bemüht hat ein Instrument geborgt zu bekommen – wieder ein Vortheil – von welchem ich doch einige Freude schon genoßen – und mir noch manche verspreche! – es ist für mich eine wahre Demüthigung, mich, so viele Täuschungen dieser Art ich schon  Vom Hg. korrigiert.dieser Art erfahren | 26v imer wieder in den kommenden und gehenden Gestalten etwas ansprechendes zu finden – und mir nur neue Qualen dadurch zu verschaffen –! so geht es dem Alter welches noch nicht ganz absterben kan – und doch gern sterben wolte imer wieder durch das Anschauen lieblicher Formen aus deren Auge viel Geist spricht – angezogen wird gleichsam neu auflebt – um bey jedem Rükzug oder Trenung wieder zu sterben und imer zu fühlen daß mann noch lebt!!! welch ein unseeliger Streit zwischen Veredlung und Herabziehen zur Nichtigkeit! ich weiß nicht ob ich mich dir ganz deutlich gemacht habe – ich weiß wohl – daß dir dis alles und noch andre Dinge gar nicht so peinlich erschien – aber mir. Vielleicht verstehst Du mich jezt beßer! In dieser Art war es vielleicht heilsamer daß ich Louise erst gar nicht gesehn – wer weiß – wäre ich ihr bey Persönlichen Ersehn das gewesen was sie ahndet – was ich wünsche was hätte ich alsdan gelitten – ich denke bey dergleichen an die Ellert Geschichte – ich wolte seitdem Niemand mehr so lieben – aber kann ich über mich gebieten daß meine jezige Stimung so sehr reizbar ist – mag

Zitierhinweis

3719: Von Charlotte (Lotte) Schleiermacher. Gnadenfrei, um den 20.12.1811, ediert von Simon Gerber und Sarah Schmidt. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0008419 (Stand: 26.7.2022)

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