31sten December 1813.

Sie würden mich garnicht schelten, liebste Gräfin, sondern nur bedauern, wenn ich Ihnen recht sagen könnte, warum ich Ihnen so lange geschwie gen habe. Ich habe mich es wirklich nicht werth gefühlt, und darum auch es nicht vermocht; denn das ist ja Beides dasselbe. Es ist nicht Mißmuth, nicht Verstimmung, es ist ein verblichner abgestumpfter Zustand des gan zen Wesens, das nur durch das allergegenwärtigste aufgeregt werden kann. Ach wären Sie doch hier! ich habe die größte Sehnsucht nach Ih nen! dann würden Sie wohl fühlen, wie innig ich Sie liebe und verehre und wieviel Sie mir werth sind; aber schreibend geht es ja nicht, ich bin völlig lahm mit der Feder in der Hand. Sie sehen, Gnädigste, ich rede auch von mir und Sie müssen es um so mehr verzeihen, je weniger ich Ihnen den Gegenstand verbergen oder verschönern kann. Was wollte ich aber anders machen? man kann doch am Ende nur von Sich reden, Sich aussprechen, ob es nun mittelbar oder unmittelbar geschieht! Pinette hat uns gestern gesagt, daß Sie krank gewesen sind, ordentlich bettlägrig. Es hat mich recht erschreckt. Sie kommen mir zu einsam vor um krank zu sein, ohnerachtet Sie Ihre Mutter bei sich haben. Wenn man eine Krank heit zu einem recht vollen Genuß vielseitiger Liebe ausbilden kann, so laß ich es mir gefallen, daß ein ordentlicher Mensch krank wird; sonst ist es doch zu traurig, so ganz unter die Potenz der Natur zu fallen, und sollte garnicht stattfinden. Sagen Sie uns doch ja bald, daß Sie wieder gesund sind. Pinette hat mit recht herzlichem Antheil von Ihnen gesprochen; überhaupt war sie ordentlich wieder fröhlich, doch daß das Bewußtsein Ihres Zustandes überall durchblickte. Ich habe eine bittersüße Freude an ihr gehabt; Gott und wie ähnlich sieht Heinrich unserm Freunde! Auch Pinettens wegen würde ich mich anklagen, daß ich sie nicht genug auf suche; ich bin aber schon öfter unterwegs gewesen, und dann überfällt mich wieder das Gefühl, daß ich ihr doch gar nichts sein kann, daß ich ihr ganz stockig erscheinen muß, und daß es also nur eine leere Aeußerlich keit wäre, und dann gehe ich vorbei. – Ich habe ihr das gestern ehrlich gesagt, aber sie schien es nicht zu glauben, sondern mehr für einen scherz haften Ausweg anzusehen und die eigentliche Ursache in meinen Ge schäften zu suchen. Ich habe aber noch nie so wenig gethan, weil ich zu allem die doppelte Zeit brauche. Erschrecken Sie auch nur ja nicht vor dem Lectionsverzeichniß; es sind der Studenten so wenige, daß nicht alle angebotnen Collegia zu Stande kommen konnten, und ich lese deren nur zwei. Ich könnte also noch viel thun, und wenigstens an die Ausarbeitung meiner wichtigsten Sachen denken, wenn es besser mit mir bestellt wäre. Ja, liebste Gräfin, hat Gott irgend wann durch mich zu Ihnen geredet, so halten Sie immer auch das Instrument in Ihrem treuen Herzen in lieben dem Andenken, aber wünschen Sie nicht, daß es noch lange spielen möge, und wenn Gott es zerbricht, so glauben Sie, daß Er Alles zur rechten Zeit thut. Das Vorgefühl davon ist besonders seit meinem Geburtstage so leb haft in mir, daß es kaum trügen kann, und heute am lezten Tage des Jahres erfüllt es mich ganz.

Unser Haus hat auch einen Zuwachs bekommen; meine älteste Schwe ster aus Gnadenfrei ist bei uns. Wir haben seit 30 Jahren nicht eigentlich miteinander gelebt; daher wird mir durch sie meine ganze erste Lebens periode wieder lebendig, eine Menge verloschner Erinnerungen werden wieder wach. Sie ist auch sonst eine merkwürdige Person und ein ganz neues Element in unserm Leben.

Unsere besten Wünsche begleiten Sie in das neue Jahr. Möchten Sie von allem frei werden, ganz frei, was sich Ihrer widerrechtlich bemächtigt hat und Sie drückt. Freuen Sie sich recht alles Schönen und auch des heiligen Schmerzes der Sie nie verlassen wird, und erlauben Sie uns Ihnen ganz anzugehören.

Zitierhinweis

4010: An Luise Sophie Caroline Gräfin von Voß. Berlin, Freitag, 31.12.1813, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007825 (Stand: 26.7.2022)

Download

Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen.