Kiel den 26sten Juny 15.

Sie werden von der Herz meine Abhandlung erhalten haben, die eben keinen Anspruch darauf macht, von Ihnen gelesen zu werden; denn der allgemeinere Theil ist nicht sonderlich gerathen, da die fremde Sprache den freyen Gedankengang etwas hemmte, und der besondere Theil kann nur den interessiren, der am Hesiod ein besonderes Interesse nimt.

Dies wollte ich Ihnen gleich sagen, da ich Ihnen die Abhandlung schickte, ich wurde aber in dem schon angefangenen Briefe an Sie ge stört.

Daß mir der Tod meinen einzigen Bruder genommen hat, ist Ihnen wohl schon bekannt. Ich habe in ihm sehr viel verlohren, und werde diesen Verlust noch so bald nicht verwinden. Es überfährt mich bisweilen eine Art Grausen, wenn ich daran denke, wie bald meine Aeltern viel leicht auch aus der Welt scheiden, und wie ich dann so ganz allein da stehe, ohne durch Natur und Familienbande irgend einem verbunden zu seyn.

Es hat mich sehr gefreut, daß Ihre Ethik nun angekündigt ist; und da Sie nun jetzt von den fatalen Geschäften für das Departement befreyt sind, so darf ich ja wohl hoffen, daß keine zu großen Unterbrechungen eintreten werden. werden.

Haben die dialektischen Vorlesungen Sie vielleicht veranlaßt, die dia lektische Einleitung etwas zu erweitern? Obgleich auch bey | 15v einer solchen Erweiterung es immer noch wahr bleibt, daß die Ethik sich anlehnen muß an eine in der Zeit vorausgesetzte speculative Ansicht, so würde, glaube ich, doch die letzte es Ihnen Dank wissen, wenn Sie dazu beytragen woll ten, durch eine kurze Darstellung ihrer Hauptmomente in einer bestimm teren und vollendeteren Form, als bisher geschehn ist, sie in sich selbst klarer und denen, die sich in ihr fester setzen mögten, etwas verständli cher zu machen. Hegels objective Logik, die sich das zur Aufgabe ge macht zu haben scheint, enthält nach einer trefflichen Einleitung doch wunderbare Dinge. Alles versteht man nicht, und was man versteht, kommt einem oft mehr als eine gewisse Taschenspielerey vor, als wie eine tüchtige und wahrhaft ersprießliche Speculation. Haben Sie das Buch einmal angesehn? ich mögte wohl wissen, was Sie darüber urtheilen, um entweder veranlaßt zu werden, die starke Unlust zu überwinden, die mich abhält recht daran zu gehn, oder es mit ruhigerem Gewissen ganz liegen lassen zu können.

Ich empfinde große Neigung, meine Vorlesungen über die Analytik ordentlich auszuarbeiten. Den Satz des Widerspruchs würde ich an die Spitze stellen, ungefähr in der Form: wenn a = b ist, so darf nicht gesagt werden, es sey nicht b. Darauf würde in dem ersten Theile von den Erweiterungen dieser Formel gesprochen werden, z.B. wenn a = b ist, und c = nicht b, so darf nicht gesagt werden, a sey c u.s.w. wohin denn die ganze Syllogistik gehören würde, doch ausgeführter als bey Aristo teles. Dabey Reductionen freyer Gedankenverbindungen auf eine der vorher vollständig aufgezählten möglichen Formen (was dem Anfänger, wie ich häufig erfahren habe, sehr nützlich gemacht werden kann). Der zweyte Theil würde von den Bedingungen der Anwendung dieser For men reden, | 16 nämlich der analytischen Deutlichkeit, wobey von Defini tionen und Divisionen, aber nicht mit dem Anspruche, die wahre dia lektische Bedeutung beider zu erschöpfen. Im dritten Theile würde dann von dem Orte der Anwendung geredet werden, besonders zur Kritik, einer solchen nämlich, wie Sie in Ihrer Kritik der Sittenlehre geübt ha ben, die überhaupt als ein treffliches Muster der Anwendung der von mir bezweckten Theorie angeführt werden könnte. Was die gewöhnliche Logik eigentlich leistet, würde von meiner Analytik vollständiger gelei stet; die Auswüchse und Anmaßungen derselben aber würden vermie den. Für die eigentliche Speculation wäre dadurch nichts gewonnen, weil sie ihrem Wesen nach negativ seyn würde, sie müßte die Dialektik als etwas über sich stehendes anerkennen; aber Sinn für Regelmäßigkeit, Ordnung und Klarheit zu erwecken, könnte sie sehr ersprießlich seyn, und dadurch die Speculation vorbereiten. Ich bitte Sie mir zu sagen, was Sie dazu meinen.

Mit den jungen Leuten hier ist bis jetzt noch nicht gar zu viel anzu fangen. Sie sind besonders entsetzlich aufgeklärt. Das macht mich oft verdrießlich, recht verdrießlich. Sonst geht es mir im Ganzen wohl.

Um wenigstens nichts unversucht zu lassen, was den Geist bey uns etwas wecken kann, haben sich hier die tüchtigsten der Professoren zu einer Zeitschrift vereinigt, unter dem Namen Kieler Blätter. Ich bin mit unter den Redactoren. Ueber Plan und Zweck sage ich Ihnen weiter nichts, weil ich Ihnen das erste Heft, so bald es erscheint, zuschicken werde.

Wie wünschte ich, die Freude des Sieges in Berlin mit Ihnen feyern zu können! von Preußen erwarte ich für Deutschland alles. Es sind doch unverantwortliche Dinge geschehn!

Leben Sie wohl. Grüßen Sie recht herzlich Ihre liebe Frau, Ihre Schwe stern und Kinder. Vergessen Sie nicht Ihren Twesten.

Zitierhinweis

4147: Von August Twesten. Kiel, Montag, 26.6.1815, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007807 (Stand: 26.7.2022)

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