Kiel den 23st. Nov. 14.

Wenn wirklich jedesmal, daß einer an den andern lebhaft denkt, es sich diesem durch irgend ein Zeichen kund thäte, so müßten Sie, seit ich Sie mir nicht anders als in Gedanken vergegenwärtigen kann, oft solche Zei chen wahrgenommen haben. Denn oft, wenn ich auf Veranlassung meines gegenwärtigen Geschäfts darüber nachsann, was doch eigentlich der aka demische Lehrer seinen Schülern seyn sollte, ist es mir recht klar gewor den, daß diese von ihm keine größere Wohlthat erlangen können, als wenn er ihnen die Anschauung eines nicht nur in sich zu einer lebendigen Einheit verbundenen, sondern auch mit dem Triebe wie mit dem Ver mögen, alles, was nur sich ihm in Natur und Geschichte darbietet, an sich zu ziehn und zu durchdringen ausgerüsteten Wissens darbietet. Der bloße Begriff eines Ganzen der Erkenntniß, wie er sich wohl in der Dialektik geben läßt, hilft einem noch wenig, wenn man ihn nicht irgendwo, so weit es seyn kann, realisirt gesehen hat, und sieht man auch eine einzelne Disciplin, was ja selten genug ist, nach jener Idee organisirt, so wird die peinliche Rathlosigkeit nur um so größer, wenn in dem großen Chaos der aus dem Leben an uns gelangenden Begriffe zwar einige von jenem Or ganismus angezogen werden, und sich geordnet, wie die eben gefrieren den Wassertheilchen an die schon fertigen Eisblümchen, an das Gebildete anschließen, aber eben dadurch die Verwirrung in den Uebrigen und den Mangel organisirender Principe desto fühlbarer machen. Was soll der Schüler nun gar anfangen bey dem Kampfe, der, wenn er auf Elemente eines von einem ganz anderen Puncte aus gebildeten Ganzen stößt, zwi schen dem verborgenen Leben, was diese enthalten, und dem vielleicht ganz feindseeligen des ihm zum Bewußtseyn gekommenen entstehn wird? Aus dieser ganzen Noth kömmt er heraus, wenn er wirklich eine wissen schaftliche Ansicht nicht nur durch die Hauptgebiete des Wissens durch geführt, sondern auch im Zusammenhang und in ihrem Verhältniß mit anderen Ansichten, die in der Geschichte | 13v Gültigkeit gehabt haben, dar gestellt sieht. Liegt dann wirklich die Prädetermination zu einer differen ten Ansicht in seiner Natur, so wird er sich nicht nur dieser Differenz früher bewußt, er weiß auch wo sie eigentlich ihren Sitz hat, er hat gesehn was ihm obliegt, wenn er sie durchführen und geltend machen will, er wird überall das von seiner Ansicht durchdrungene Gebiet sicher unter scheiden können von dem, was noch nicht durchdrungen ist, und das Gefühl hie und da noch nicht fertig zu seyn, wird ihn treiben auch hier nach Vollendung zu streben, ohne ihn, da er weiß was und wie er es zu thun hat, in den ermüdenden und erschlaffenden Zustand eines Men schen zu versetzen, der nach langem Gehn in einem dicken Walde weder mehr weiß woher, noch wohin, noch auf welchem Wege.

Wozu aber dies alles? weil ich, der ich meinen Schülern gern seyn mögte, was meiner Meinung nach der akademische Lehrer seinen Schü lern seyn soll, mich selbst noch in diesem Zustande befinde; weil ich vergebens nach Werken mich umsehe, in denen das von einem wissen schaftlich tüchtigen Manne geleistet wäre, was ich verlange; weil ich aber jemand kenne, der dies leisten könnte, indem er nur die wirklich von ihm gehaltenen Vorlesungen mit dieser Beziehung auszuarbeiten brauchte, die jetzt durch eine zu große Reihe von Semestern vertheilt sind, als daß so leicht jemand sie alle hören könnte; weil ich diesen gerne bewegen mögte, einem so wesentlichen Bedürfniß vieler, und nicht der schlechtesten, jun gen Männer abzuhelfen, dem er allein abhelfen kann; ja, dem abzuhelfen er beynahe durch ein schön gegebenes Versprechen verbunden ist, wenn anders, wie ich denke, dies gerade das seyn würde, was in den Monolo gen verheißen wird, „Es ist das höchste für ein Wesen wie meines, daß die innere Bildung auch übergeh in äußere Darstellung; in einem Werk der Kunst“ (das würde eine wissenschaftliche Darstellung bey dem doch auch seyn, dessen innerstes Wesen die Wissenschaftlichkeit ist?) „mein inneres Wesen und mit ihm die ganze Ansicht, die mir die Menschheit gab, zu rückzulassen. Wie ich mir der vollen Blüthe des Lebens bewußt zu wer den anfing, keimte der Gedanke auf, jetzt wächst er in mir täglich und nähert sich der Bestimmtheit. Unreif, ich weiß es, werd ich ihn aus freyem Entschluß aus meinem Innern lösen etc.“ Gerade diese letzten Worte neh men | 14 Ihnen den Grund, aus dem allein Sie diese Anforderung von sich weisen können; wenn es anders überall ein Grund der Abweisung seyn kann, daß das reifste in Vergleich mit anderm doch noch nicht das ab solut reifste ist. Lassen Sie sich also bewegen, nicht nur die Vollendung der Ethik, so weit es mit Erhaltung Ihrer Gesundheit geschehn kann, zu beschleunigen, sondern dann auch kurze Darstellungen der theologischen und philosophischen Disciplinen, über welche Sie lesen, und die Ge schichte der Philosophie folgen zu lassen. Wenn auch nur in Form von Compendien, die Ihnen doch auch bey Ihren Vorlesungen selbst von nicht geringem Nutzen seyn und Ihren Zuhörern das Verstehn sehr erleichtern würden.

Ich habe dann gar viel zu arbeiten, ich thue es aber mit Lust, weil ich mich zum ersten Male in einem mich befriedigenden Wirkungskreise fin de. Auch habe ich für Kiel ziemlich viele Zuhörer. Wenn nur nicht der gesellige Kreis um mich her mich zu oft schmerzlich an den erinnerte, aus dem ich geschieden bin, und nach welchem mich zurückzusehnen schon oft genug andere Gründe mich treiben, so daß es dieses untergeordneten Gefühls des geselligen Misbehagens nicht bedürfte. Es bleibt mir aber ja fürs erste nichts übrig, als stark zu seyn.

Grüßen Sie von mir Ihre liebe Frau, Ihre Schwestern und Kinder; be halten Sie mich [in] Andenken, sorgen Sie für Ihre Gesundheit.

Mit der innigsten Liebe und Verehrung Ihr Twesten.

Zitierhinweis

4096: Von August Twesten. Kiel, Mittwoch, 23.11.1814, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007806 (Stand: 26.7.2022)

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