Hamburg den 25sten November 1811.

Seit ich hier bin, ist noch kein Tag vergangen, der nicht mit Ihrem Andenken zugleich auch den Wunsch in mir wieder hervorgerufen hätte, zu Ihnen zurückkehren zu können. Sie jeden Tag zu sehen, wenigstens Einmal die Woche mit Ihnen zu reden, war mir so sehr Bedürfniß geworden, daß wenn es einmal nicht geschah gleichsam von seiner nothwendigen Nahrung etwas meinem Geiste entzogen schien. Ich mogte mir bey meiner Abreise aus Berlin daher auch gar nicht denken, daß ich es für immer verließe, und ließ mir, um mich in der Täuschung zu erhalten, als sey eine baldige Rückkehr wohl möglich, meinen Paß auf 3 Monate ausstellen. Hier angekommen habe ich mich dann an Ihre Schriften gehalten, besonders an die Monologen und das Buch über die Universitäten; doch, obgleich ich vieles jetzt besser verstanden habe, obgleich mir die Idee Ihrer Ethik und selbst ihrer größern Umrisse klarer zu werden angefangen hat, scheinen sie mir doch, wie es ja Schriften nicht anders seyn können, nur unvollkommener Ersatz für den, der Sie in Ihrem Leben kennen zu lernen das Glück gehabt hat; und was das letzte betrift, so mögte ich fast unzu | 3vfrieden seyn mit dem Schicksal, daß es nicht diese wenigstens noch von Ihnen zu empfangen mir vergönnt hat; denn nachdem ich nun meinen vorgesetzten historischen Cursus mit dem Studium des Herodot begonnen habe, wird es mir erst recht fühlbar, wie sehr durch sie meine Schritte an Sicherheit gewinnen würden.

Es scheint, als wenn Geist und Körper bey mir sich schwer an eine neue Art zu seyn und zu leben gewöhnten. Wie anfangs in Berlin bin ich jetzt auch hier mißmüthig und kränklich. Viel trägt dazu wohl Hamburgs unglückliche Lage bey, die schon daraus erhellt, daß seine Bevölkerung in den letzten Jahren an 30000 Menschen abgenommen hat. Das Lehren der ersten Elemente will mir auch nicht recht behagen, und die Fortschritte meines Zöglings wollen sich in der Wirklichkeit nicht so beschleunigen, als sie früher in der Phantasie thaten. – Sie dagegen mag ich mir nicht anders denken als froh und heiter und durch Ihre Reise von Ihrem vorigen Uebelbefinden auch alle Spur vertilgt.

Was mir besonders am Herzen liegt in Ansehung meines Zöglings, ist den Religionsunterricht auf die rechte Weise einzuleiten.  korr. v. Hg. aus: DasDaß man, so wie jetzt die Sachen stehn und da man die Kinder nicht isoliren kann, mit demselben nicht zu lange warten darf, wie Sie schon einmal bemerkten, da wir gerade hierüber sprachen, davon habe ich mich seitdem noch mehr überzeugt. Es geschieht so manches, um die im Kinde erwachende Ahndung eines Höheren wo möglich im Keime zu ersticken, daß ein Gegengewicht gegen diese Einwirkungen unentbehrlich scheint. Nur das Wie setzt mich noch in Verlegenheit. Die Art indeß des Eindrucks, den nach | 4 Goethes Schilderung in seiner Selbstbiographie die Lesung des alten Testaments, wiewohl in einem etwas späteren Alter, auf ihn machte, indem sie ihm, der durch so vieles zerstreut ward, einen Mittelpunkt gewährte um den alles andere sich ordnete und reihte, hat mich auf den Gedanken gebracht, daß es von unseren Vätern wohl nicht so unzweckmäßig gewesen seyn mögte, wenn sie sehr bald mit Kindern die Bibel zu lesen anfingen. Des Unverständlichen kann, däucht mir, in diesen einfachen Zeiten nicht eben viel für Kinder seyn, und wenn auch, so scheint mir das hier nicht unangemessen, wo sie doch noch so lange mehr ahnden müssen als verstehen können; und Reinheit der Vorstellungen dünkt mich immer etwas relatives, inwiefern sie nach der Persönlichkeit oder Nichtpersön- lichkeit, mit der Gott auftritt, gemessen werden soll, und darauf kömmt doch alles zurück, was man in der Hinsicht dem Alten Testamente vorwerfen kann; dieselbe wächst ja auch immer mehr, je näher die Geschichte dem Neuen Testamente rückt. Ich wäre daher nicht ungeneigt, nach einiger Vorbereitung mit meinem Zögling an die Bibel selbst zu gehn; doch gern mögte ich hierüber vorher Ihr Urtheil vernehmen.

Ein Zweites, worüber ich mir einige Winke von Ihnen erbitten mögte, ist die Begründung der in der Dogmatik so wichtigen Ansicht der von einem ersten Anfangspuncte aus immer wachsenden, jedoch nie zur Vollendung gelangenden Vollkommenheit. In meinem Gefühle finde ich diese allerdings vor, und die Geschichte scheint sie zu bestätigen; es scheint mir aber, als müsse ihr auch etwas Speculatives zum Grunde liegen, was ich nicht habe auffinden können. Denn wissenschaftlich angesehen scheint es mir, als könnten sich die verschiedenen Zeiten nur dadurch unterscheiden, daß in den einen dieses, in den anderen jenes sich zum Mittelpunct des Ganzen erhebe und dies dann freylich, indem es anfangs nur weniges, dann immer Mehreres durchdringt, und sich aneignet. Aber zugleich gestehe ich, daß ich mehr glaube, diese Ansicht könne durchgeführt werden als daß ich, wie es geschehen könne, klar sähe.

Leben Sie wohl. Vergessen Sie nicht ganz

Ihren Sie mehr als irgend einen Menschen auf der Welt verehrenden und liebenden Twesten. (Großen Bleichen N. 338)

Zitierhinweis

3708: Von August Twesten. Hamburg, Montag, 25.11.1811, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007799 (Stand: 26.7.2022)

Download

Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen.