Breslau d 25t. Sept. 11.

Hier bin ich liebste Jette in meiner Vaterstadt seit diesem Morgen halb vier Uhr. Seit meinem lezten Briefe habe ich, weil ich einige Leute in der Nähe von Schmiedeberg die ich sprechen muß, nicht fand meinen Reiseplan geändert. Sonntag Mittag war ich nach dem Essen noch in Hirschberg auf dem Kavalierberg wo mich Frize abholte und fuhr mit ihr und der Junak nach Schmiedeberg zurück; den Abend war der Neygenfind da den ich sehr liebenswürdig fand und der sich recht herausgebildet hat. Montag Morgen hatte ich einen langen Besuch von Graf Gessler der den Tag zuvor angekommen war. Er muß kürzlich in Halle gewesen sein denn er erzählte mir viel von Steffens und Blanc; lezterer schien ihm ganz vorzüglich gefallen zu haben. Dann that ich mir die Wonne eines Bades an, und machte ein Paar kurze Besuche bei der Wilhelm[,] Barchewiz und bei Alberti. Mittags aß Neygenfind noch bei uns und Abends um 10 Uhr reiste ich mit Frize nach Gnadenfrei ab wo wir am andern Mittag Lotten eine herrliche Ueberraschung machten. Frize bleibt so lange da bis ich sie auf meiner Rükkehr aus Glaz abhole, Lotte glaubt jezt vorzüglich weil sie in der Anstalt nicht zu missen ist nicht kommen zu können. Ich ging noch denselben Nachmittag ab und kam diesen Morgen hier an und habe mich nun nachdem ich | 2v ein Paar Stunden im Gasthofe geschlafen bei Gass einquartiert. Wunderlich ist mir hier zu Muthe; die Erinnerungen aus meiner frühesten Kindheit kehren allmählig bei dem Anblik der Straßen und Häuser sehr lebendig zurük und wenn ich bedenke wie mich Gott seitdem geführt hat – es ist eine schöne stille Rührung die du gewiß mit mir theilst.   Uebrigens gefällt mir Breslau weit besser als ich glaubte wiewol es sich sehr wenig (ausgenommen durch die lezte Belagerung) verändert hat. Von den Menschen weiß ich freilich nur erst sehr wenig, und rechne auch nicht viel auf sie.   Gass war verreist und aus einem Briefe den ich in Schmiedeberg von ihm fand – denn Fama hatte meine Reise schon verkündet, so daß ich auch Heindorf heute keinesweges überrascht habe – schloß ich daß ich ihn nur den lezten Tage meines Hierseins würde sehn könen; allein er hat sich sehr gesputet und war Gestern Abend zurük gekommen. Ich denke nun spätestens Sonntag Abend hier abzugehn nach Glaz. Montag Abend von Glaz nach Gnadenfrei. Dann werde ich mich vielleicht den Mittwoch in und um Reichenbach aufhalten müssen dann bringe ich die Frize nach Schmiedeberg und reise über Hirschberg Goldberg Liegniz und Bunzlau. So weit kann ich selbst voraus sehn wenn ich nicht abermals etwas ändern muß.

Wie unendlich leid thut es mir daß ich dich liebstes Leben nicht | 3 bei mir habe. Manchmal quält mich der Gedanke daß es vielleicht gegangen wäre; aber dann wenn ich an die Kinder denke so wäre mir doch gar zu bange gewesen sie grade jezt ohne Dich zu lassen. Ich danke dir dafür noch recht viel nicht sowol zu erzählen als vielmehr mitzutheilen. Daß mich beim Schreiben die Post jedesmal drängt ist leider gar zu natürlich. Ich umarme Dich aufs herzlichste und küsse und grüße das ganze Haus und jedes Kind ganz besonders. Deinen zweiten Brief werde ich wol aus Schmiedeberg nachgeschikt erhalten und den dritten noch hier bekomen. Nach Ankunft dieses Briefes könntest Du mir mit Sicherheit wol nur noch nach Bunzlau oder Liegniz schreiben.

Dein treuer Ernst

Gassens grüßten aufs freundlichste

Zitierhinweis

3691: An Henriette (Jette) Schleiermacher. Breslau, Mittwoch, 25.9.1811, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007709 (Stand: 26.7.2022)

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