Gdf. d 16 Nvbr 1811

Die gute Leidende von welcher ich noch im Wagen mit Fritze sprach des ehrwürdigen Dobers Tochter – ist nach vielen Schmerzen des Körpers die sie seit ihrem 17 Jahre und nicht völlig 30 geworden, fast, ununterbrochen ausgestanden – nachdem sie noch 7 Wochen betlägerig war – und Allen die sie sahen ein Muster der Geduld – Gestern aufgelöst – Warum ich damit meinen Brief anfange? weil ich ganz davon erfüllt bin – von allem was sie bey ihrem lebhaften temperament für 1000fache Opfer die ganze Zeit gebracht – als Mensch – als Mädchen – als Tochter – Du weist ihre StiefMutter ist die Schwester von Peistel ist oft viele Jahre in einer beständigen tiefen Reue – daß sie diesen Mann geheirathet – die nun Seelige – wurde ihr gleich unerträglich – bey Gelegenheit einer kleinen Verliebeley – noch als Mädchen – behandelte sie solche so schreklich daß, dies, bey dem kraftvollen heftigen Geschöpfe – wohl den ersten Stoff zu ihrem nachherigen | 15v Leiden und Erschlaffung aller ihrer organe gelegt – da auf einmahl der Umlauf des Blutes stokte – und die außen Theile nach und nach anfiengen zu verkrüppeln – ihre Augen litten zuerst – dann die Hände – und zulezt die Beine die sie seit 2 Jahren fast gar nicht mehr bewegen konte – Viel hat auch ihre Seele durch die unrechte Behandlung gelitten – aber ihr eigner Verstand und des treflichen Vaters hindeuten die Mutter als Kranke zu betrachten – Er der selbst dadurch unendlich viel gelitten – der Einzige wahre Freund seiner Tochter blieb bis allgemeines Mitleid, die lezten Jahre ihr mehrere zuführte – O lieber Bruder – mit diesem Mädchen deren Geist früher reifte – als 100 unsres Geschlechts – da sie bittre Erfahrung zeitig beendigte – und durch so manche Schule des Unglüks – nach dem wahren trachtete – auch oft recht freimütig ihren jüngern Freundinnen – die Warheit sagte – in ihrem Umgang fand auch ich viel belehrendes – konte über alles mit ihr sprechen – immer offen war | 16 ihr edles Tieffühlendes Wesen für andre Freuden und Leiden – bei ihr versamleten sich – so lange sie nun noch hörbar sprechen konte – einige Freundinen täglich – sie blieb sich gleich bis auf den lezten Augenblik – Gott wie göne ich ihr das längst ersehnte Ziel – aber wie lebhaft erneuert wird dadurch mein stetes inres Sehnen, wie äußert es sich in lautes Seufzen nach Vollendung – Du kenst mich darin! ach! und immer Wenigere bleiben mir – hier höre ich Dich liebevoll und ernst sagen: Gott warum habe ich nur nicht noch ernster aufs mitgehen gedrungen – was wird die alte Lotte für einen trüben Winter haben – noch dazu in der vollen Stube wo in den kurzen ZwischenRäumen ihrer LehrStunden – ihr leicht der Lerm zuwieder – und sie an allem möglichen geistvollen hindert – ich weiß das alles – ahndete 1000faches Entbehren als ich gleich jenes nein aussprach – aber Du siehst und fühlst selber – daß der Mensch nicht gegen seine Ueberzeugung – handeln darf – wäre es auch mit | 16v täglich neuen Opfern verbunden! ach Du guter treflicher Mensch – wenn meine Freundin beerdigt ist – fange ich gleich einen neuen Brief an – hiebey folgen meine Rechnungen für das alte und neue – denn Gutes thun ist ja Deines Herzens Lust und es zu befördern wo und wie Du kanst! –

Gern schrieb ich dir ganz das kleine Gedichtchen was ich einst – auf die arie machte – Schön ist Abel der Hirt!

 Sieh wir feyern Dein Fest Wir freuen uns des schönen Tages  froh verfließe er dir  froh das komende Jahr Gut ist Jesus der Hirt! Groß seine Treue und Gnade  die deine Pfade crönt  Liebe schimmert hervor.

Nächstens mehr! guter treuer Mensch – Gott segne Dich 1000fach! für alle Wohlthaten – segne Dich durch Weib und Kinder – cröne Dein schönstes Streben Durch Gnade – und das Bewußtseyn deiner Menschheit mit Barmherzigkeit. Laß von Nany dir den SchwesterKuß geben

Lotte

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Geschichte des Mantels

Dieser brauchte beim hellen Tage der Schneider besehn, noch keine totale Umänderung oder Ausbeßerung nötig und einen neuen nach dem Rathe so mancher vorlauten Menschen, einen machen zu laßen – wäre unverschämt, und überflüßig – besonders, da ich so mancherley andre warme Sachen sehr nothwendig brauche – – die ich gar gern als ein Geschenk außer der gewöhnlichen Unterstüzung von Dir annehmen werde. Zuerst aber folgt eine Berechnung über die 10 thr courant – welche Du mir hierließest

Zu einem Alltags Kleid 8 Ellen Cattun und parchent 2 12
Wäsche für das Vierteljahr 1 12
Gemein Bedürfniße 1 | 18v 12
Wolle zu einem Tuch und Strümpfe welches ich selbst strikte 2 12

Coffe Zukker The

2 12

1 paar neue Schuhe

1
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Suma 10 Courant

Die liebevolle Unterstüzung die ich zu Ende des Jahres zu erwarten habe, will ich folgendermaßen anwenden

Ausbeßerung des Mantels 3
Caffe 1
ein paar warme Halbstiefel 2
ein paar warme Handschuh 1
Gemein Bedürfniße 1

WäschGeld

1 | 19

Das übrige zu kleinen ganz unvermeidlichen Belohnungen für willige Geister.



Nun mein Bester – komt nach meiner Aufrichtigkeit ein kleines litum – was ich noch seit meiner ersten Einrichtung im Laden stehn habe leider noch imer nicht abzahlen konte

3 12


Wegen meiner Frostigkeit bediene ich mich seit 12 Jahren einer Flanell Decke – die aber jezt in einem ganz kläglichen geflikten Zustande sich befindet. Diese und meine ApothekerRechnung – nebst etwas spirituoeses zur Stärkung nehme | 19v ich gern – statt der MantelAusbeßerung von Dir an. Vorm Jahre machtest du mir ein WeinachtsGeschenk von 6 Thr – dieses wird freilich 10 – betragen! Gott es ist unverschämt – ich weiß es! aber! guter lieber Mensch – Deine Miene mit welcher Du mir sagtest „thue doch nur das du wilst[] – tröstet mich – beruhigt mich, daß Du alles gerne thust – mir mein Leben erträglich zu machen. Denn mein Verdienst geht grade zum täglichen Bedarf auf.

Zitierhinweis

3703: Von Charlotte (Lotte) Schleiermacher. Gnadenfrei, Sonnabend, 16.11.1811, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007649 (Stand: 26.7.2022)

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