Halle den 22t. Dec. 16.

Ich habe es; mein Bester Freund an Mühe nicht fehlen laßen Ihren Wunsch zu erfüllen. Je sicherer ich glaubte, die Griesbachschen Program me zu besitzen, desto mehr suchte ich in allen Winkeln nach. Ich fand vieles lange vermißte, nur nicht was ich am liebsten gefunden hätte. Indeß glaube ich dennoch durch eine Nachweisung Ihnen einen völlig gleichen Dienst zu leisten. Hoffentlich werden Sie doch in Berlin die Commenta tiones theologicae von Velthusen Kuinoel und Ruperti herausgegeben, herausgegeben, in irgend einer öffentlichen oder Privatbibliothek finden. In der ersten Sec tion sind beyde Programme vom Jahr 1789 und 90 abgedruckt. Das We sentliche der Grießbachschen Hypothese kennen Sie übrigens aus Eich horn Einleitung 1 th eil und aus Marsh Zusätzen zu Michaelis, so wie Corodis, Bertholds, Vogels und Hugs (des in meinen Augen vorzüglich zu beachtenden Forschers) Prüfungen. Berthold Einleitung zB. haben Sie gewiß. – Ich weiß nicht wie Ihnen die Sache erscheint. Mir ist bey dieser ganzen Untersuchung am wenigsten begreiflich wie 1) noch so viele die wirkliche Uebereinstimmung der 3 Evangelien für etwas mehr zufäl liges halten, oder aus einer anderen Quelle herleiten können, als aus ei nem frühen Bericht – und zwar in aramäischer Sprache. Sind die 3 Ue bersetzer und Bearbeiter von einem schon Vorhandenen, so ist mir alles klar. Daß 2) sie sich selbst epitomisirt und excerpirt haben sollen, kann ich auch nimmer glauben. Oft würde es auch ein rectificiren seyn, da sie sich ia Stellen weise ganz offenbar widersprechen. – 3) Eine bloß münd lich fortgepflanzte Sage die gleichsam der stehende | 9v Typus für die evan gelische Geschichte geworden, will mir auch nicht in den Kopf. Ich kann daran so wenig als an Niebuhrs römische Gedichte, aus denen die Ge schichte entstanden seyn soll, glauben, und denke Schlegel hat das sehr bündig widerlegt. Sonst ist die Hypothese recht artig von einem unserer Lehrer Herrn Gieseler im Tschirnerschen Journal (erstes Stück) behandelt worden.

Wenn Sie Licht in die dunkle Sache bringen – eris mihi magnus Apollo! Aber ich gestehe meinen Unglauben, daß es möglich ist, da wir so sehr von historischen datis verlaßen sind und nur Hypothesen vermehrt wer den können, die uns nicht weiter bringen.

Ich weiß nicht ob es Ihnen wohl selbst bey Johannes in der Passions u Auferst Gesch so wie mir aufgefallen ist, dß auch er die ältere Erzählung wörtl beybehält, und nur einschiebt ws niemand beßer als ein Augenzeuge einschieben konnte. Es ist mir wenigstens da der Johanneische Ursprung mancher Notizen noch weit einleuchtender als der Petrinische Einfluß auf Markus, wiewohl ich ihn auch gerade nicht leugnen will.

Ist Ihnen denn das andre Werk eines bisher ganz in obscuro lebenden und auf einmal so würdig hervortretenden sächsischen Predigers Gers dorf, Sprachcharakteristik des Neuen Testaments, zu Gesicht gekommen? Trotz aller Minutien, die nun | 10 einmal von solchen Studien nicht zu tren nen sind, hat er doch treflich gesammelt und beobachtet. So ein Mann latescirt und quält sich ab in seinem Amt; – mag auch wohl ein langwei liger Prediger seyn – aber verdient doch ein beßer Schicksal. Ich habe erst eine ziemlich oberflächige Anzeigen davon gelesen.

Sie merken wohl an meiner Gesprächigkeit daß ich nicht mehr Rector bin. Wirklich merke ich es selbst wieder Herr meiner Stunden zu seyn, an mancher erfreulicher Mußestunde. Was man mir für einen Kreiß anwei sen wird, weiß ich noch nicht genau. Alles soll ia kommen wenn orga nisirt wird. Statuten haben auch wir nicht außer den Alten, die recht gut sind, und bey denen man es nur laßen sollte. Vielleicht wird die Publi cation der Ihrigen auch uns weiter bringen. Zu Ihrer Inaugurationsfeyer möcht ich wohl kommen, wenn nur erst gefeyert wird, ob ich wohl sonst der Feyern immer mehr müde werde.

Von der Liturgie für die Garnisonskirche hörte ich ia schon im Aprill in Potsdam. Aber auch da galt sie nur für etwas auf die GarnisonsKirche berechnetes. Die ganze Sache ist doch ein rechtes parturient montes ge worden und so ist am Ende mehr dadurch geschadet als genützt. Denn wenn aus solchen Anstalten nichts herauskommt – wie soll der Einzelne hoffen etwas auszurichten, und so werden auch wohl manche Aufgeregte in die gewohnte Lethargie zurücksinken. | 10v

Daß Wolf contra Heindorf uns auch hier indigniert hat werden Sie sich leicht denken können. Nur verwundert hat es uns nicht. Er ist ia kein anderer geworden; er hat es ia mit so vielen Werken von ihm(?) nicht um ein Haar besser ia noch viel schlimmer gemacht. Und da hat man dann freylich wohl hier gesagt „warum wird ihm denn sonst alles verziehen? Warum fand man diesen Uebermuth geistreich, und diese Grobheit gött lich! Warum ahmten so manche seiner Schüler grade das an ihm nach, und sehen alles alto supercilio an, wie er sie nun ansieht? Das empörte Freundschaftsgefühl in den beyden Anti's hat man sehr gebilligt. Genügt hat auch F. Buttman nicht allen. Und in Ihrem Schreiben hat man ge meint, es sey manches herbeygezogen, was nicht zu dieser Sache gehöre und uns gehäßig erscheine. Doctor expressit habe ich geantwortet. Aber – da Sie meine Meinung verlangen – so will ich aufrichtig sagen, daß ich auch manches weg gewünscht habe und überall gemocht hätte, das Ver ächtliche wäre noch kürzer und Verachtender behandelt. Doch, wir kön nen nicht alle eine Weise haben.

Wie es aber mit unsrer Theologie itzt steht – darüber möchte ich Ta gelang mit Ihnen mich ausreden. Das ist ein neuer wunderlicher Kampf des Alten und Neuen. Auch bey unsern iungen Theologen findet die kirchliche Orthodoxie unerwartet vielen Eingang. Sie spricht freylich mehr zum Gefühl als eine rationalistische Dogmatik. Doch ich mag da von nicht anfangen. Sie werden müde seyn sich mit meiner bösen Hand zu mühen. Also nur noch von mir und den Meinigen – meinen herzlichen Wunsch Ihnen und Ihrem Hause für ein gesundes und fröhliches Neuiahr! Im neuen wie im Alten

Ihr Niemeyer

Zitierhinweis

4315: Von August Hermann Niemeyer. Halle, Sonntag, 22.12.1816, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007608 (Stand: 26.7.2022)

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