Bremen 16. Dec. 12.

So angenehm es mir ist, von Zeit zu Zeit ein freundliches Wort aus Ihrem Hause zu vernehmen, so ists doch immer nur durch eine dritte Person. Und obgleich diese Person die herzliche Nanny ist, die tiefmitfühlende, so verlangt mich doch zuweilen auch nach einer Zeile von Ihnen, Herrlicher Freund. Ja es ist, als wenn diese Zeit mich stärker zu Ihnen zöge – Tage, wo mich alles so lebendig 2. Jahre zurück setzt, und mir eine Menge Betrachtungen aufdrängt. Am meisten drückt mich Adolfs Verzweifeln an seinem hiesigen Fortkommen, indem er glaubte, sein College Rode werde ihm stets im Wege seyn, weil er reich war und unverschämt, und vorzüglich, weil er Schwiegervater und Vettern im Rathe hatte, die ihm alles zuwandten, der meinem Adolf die sichere Militärpraxis, dann das Armeninstitut, und zuletzt das Hospital wegkaperte; der dann aus Besorgniß Adolf werde ihn ausstechen, lieber einige hundert Rth weniger nahm, um nur Adolf nicht zum Collegen | 21v zu erhalten – Ich glaube, daß ich Ihnen die Geschichte erzählt habe, wie ich ihn als um meine Seligkeit bat, den Vorschlag der Commission anzunehmen; und wie er so indelikat seine abschlägige nichtige Antwort in Adolfs Hände schickte, der nichts davon wissen sollte. Aber ich habe Ihnen noch nicht das Ende gesagt. Die Nemesis ließ ihn nicht in unser Auge schauen, wenn er nach Adolfs Hinopferung uns begegnete. Damit ist die Göttin der Vergeltung nicht zufrieden – Rode wurde im Lazareth auch von einer gefährlichen Ruhr angesteckt – er starb an eigener braunischer Kur – Sein Haus ist in fremden Händen – doch dies ist natürlich – Aber nicht so natürlich, daß sein theurer Vetter und Patron, der Rathsherr Danze, der ihm als Präsident jener Commission die 1000 Rth mit Übergehung Adolfs zuwandte – bei der neuen Besetzung der Magistraturen, gar nichts geworden ist – ja iezt sogar in Gefahr steht, ins Gefängniß zu kommen; weil eine Beschuldigung, daß er | 22 einen jungen Dieb, oder eigentlich einen Knaben, der beschuldigt war, daß er 5 Rth gestohlen habe – unschuldiger weise als Cammerarius habe todt hauen lassen, weil er nicht gestehen wollen. Die Sache ist vor 2 1/2 Jahr geschehen; der Magistrat soll es damals unterdrückt haben. Jezt hat es die Mutter beim französischen Tribunal wieder anhängig gemacht – die Tolle Geschichte ist nach Hamburg berichtet – und fast die ganze Stadt spricht mit Behagen davon.

Das sind so kleine Zwischenakte des großen Trauerspiels, was alles hier in die gespannteste Erwartung setzt. Da es nun auf dem großen Theater iezt wenig Neues gibt, so muß manches als aliquid novi hervorgehoben werden, was sonst nicht der Rede werth geachtet würde. Dahin gehöret die Recension der Menkischen Schrift über die eherne Schlange. Menkens Anhänger schimpfen auf den satanischen Kritiker. Man sagt, es gäbe keine Orientalisten, die diese Schrift gründlich beurtheilen könnten. Was sagen Sie dazu? ich kenne die Schrift nicht, und begreife ihren Zweck nicht, ahnte aber eine mystische Tendenz. | 22v

Was macht denn unser Giesebrecht? Denken Sie! er hat seit seinem Wegseyn noch nicht an mich geschrieben, und ich weiß, daß kein Haus in Bremen ist, in welchem er so oft war, das ihn so herzlich und freundschaftlich behandelte. Denn er wurde hier etwas vernachlässigt. Ich habe sogar an ihn nach Berlin geschrieben und zwar mit aller Offenheit und Treue, da ich hörte, daß er professirte. Er ist ein guter Schullehrer, aber ich glaube nicht, daß er Talente zum UniversitätsLehrer hat; und ich kenne die präkäre Lage eines Professors der keinen daurenden Beifall hat, oder gar den Studenten einmal Gelegenheit zum scoptisiren giebt.

Unser Domprediger Kothmeier, der wie Sie vielleicht wissen, unpolitisch gepredigt hat, ist seit einem Jahre suspendirt, und noch einige Meilen von hier in Surveillance – Um jedes neue Buch muß erst nach Paris geschrieben werden. Göthe's Leben 1ster Theil ist verboten. Unsere Schulen sind zusammen geworfen. Übrigens bleibt es beim Alten. Nur bekommen die meisten Lehrer ihre Besoldungen schlecht, weil die Schulkapitalien dem alten Staat geliehen waren und weil davon keine Zinsen abfallen. Es geht täglich eine beträchtliche Summe ab – aber

Empfehlen Sie mich allen Menschen, die mich kennen

Ihren innigst verbundenen hochachtungsvollen M.

Zitierhinweis

3818: Von Wilhelm Christian Müller. Bremen, Mittwoch, 16.12.1812, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007591 (Stand: 26.7.2022)

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