den 12 Sept. 11.

Herrlicher Freund

Heute ist Mitwochen, ich bin schulfrei und Elise ist aufs Land zu Freundinen gefahren; ich bin allein; und mag nicht allein seyn; ich muß an Sie schreiben, dem Ersten, dem ich nach meiner Rückkunft von unserer glücklichen Heimfarth Nachricht geben kann. Mancherlei Geschäfte hatten sich angehäuft und ich mußte meiner nächsten Pflicht Genüge leisten, doch habe ich täglich an Sie und an Ihre liebenswürdige Umgebung gedacht – dankbar liebevoll, das versteht sich. Voll Glauben und Vertrauen auf Ihre Humanität und Freundschaft zu unserm unsterblichen Adolf kamen wir; und unser Herz hat volle Gnüge empfangen. O wie unbeschreiblich wohlthätig süß war dieses warme Andenken an den Himmlischen, diese Sympathie mit unserer Gemüthsstimmung! Meine Elise ist vorzüglich dadurch erbaut und gestärkt worden. Und so mein Hauptzweck dieser Reise erreicht und mein Herz etwas erleichtert. | 19v Meine Elise meint, daß ich im Anfang nicht mit Ihnen im Rapport gestanden, weil ich für Ihren ruhigen beobachtenden Geist zu lebendig gewesen sey. Von meinem eigenen Benehmen weiß ich eigentlich nichts. Seit ich mit Bewußtseyn in die Welt getreten bin, hab ich mir zum Gesetz gemacht, bei solchen, die ich für Freunde halte, ganz zu seyn, wie ich bin, mit voller Offenheit des Herzens. Das Angenommene, der schöne Schein ist mir im Geiste höchst verhaßt. Und ich glaube, einem Mann, wie Sie, muß die Individualität nur einen Werth haben.

Sie scheidet die Geister, und es ist schon Gewinn, wenn diese Scheidung nicht durch den Schein aufgehalten wird. Darum glaube ich, meine durch die Reise und durch die Freude bei den Freunden Adolfs zu seyn, aufgereizte Lebendigkeit, hat Sie nicht von mir entfernter gestellt, als Ihre Liebe zu ihm | 20 sich mir genähert hatte.

Meine 60 Jahre rücken mich gern über die Sphäre Ihrer Denk- und wissenschaftlichen Sprachart hinaus, und ich kann durch das mechanische 40jährige Dociren des Gelernten nicht wieder zurück, trotz des besten Willens. Aber dieser Wille ist durch meine angebohrne Lernbegierde so lenksam, und durch meine Idee von Humanität, die mich vor allem Egoismus gesichert und von der Gemeinheit gesondert hat, so geschmei- dig und demüthig geblieben, daß ich mich täglich zu Ihren Füßen setzen möchte, um von Ihnen neue klare Ansichten zu erlauschen. Daß diese hohe Achtung nicht in meiner Gleichstellung zu erkennen war, haben Sie gewiß nicht als Selbstzufriedenheit oder Geringschätzung des geistigeren Lebens genommen; Sie müssen es für reine kindliche Hingebung an Ihr Herz halten, was sich doch nicht | 20v von Ihrem höher stehenden Geiste trennen läßt. – Ich fand mich bei Ihnen in mein 20 Jahr versetzt, wo ich einen nach damaliger Sphäre gleichstehenden Lehrer und Freund hatte, bei dem ich als Hauslehrer wohnte, erst in Göttingen, dann in Kiel – der Kirchenrath Zachariae. Meine freiere Ansicht der Dinge und des Wissens verdanke ich ihm. Er war Ihnen sehr ähnlich, auch in Rücksicht der Abendversammlungen, wie er freier Samen ausstreute, als ihm die damaligen Zeiten im Collegio erlaubten.

Sie werden daher glauben, daß auch ohne das innigere Band durch meinen Sohn, Freund und Lehrer – ich keinen höheren Wunsch habe, als in Ihrer Nähe zu seyn – Ihrer Nähe! an die so viele liebenswürdige reine Wesen geknüpft sind, die Sie von mir aufs freundlichste grüssen müssen

Müller

NB. Gemeineren Briefstoff finden Sie in einem gemeinschaftlichen Briefe an Alle.

Zitierhinweis

3678: Von Wilhelm Christian Müller. Bremen, Donnerstag, 12.9.1811, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007589 (Stand: 26.7.2022)

Download

Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen.