Br. den 28 Jan 11.

Den schrecklichen Schlag, wissen Sie, verehrter Freund, und haben eine Thräne der Liebe; und eine des Mitleids geweint. Er und ich sind ihrer würdig, denn nie können Sie von einer Sele inniger geschätzt und geliebt werden, als von meinem Adolf. Sein unendliches Wort der Hochachtung von Halle aus trieb mich, Sie hieher zu ziehn – sein Herz war die Feder, ob er gleich Ihnen wenig merken ließ, weils seiner Bescheidenheit zu hoch schien, Ihnen Bremen anzupreisen. Sie waren es, warum in Halle und hernach in Berlin seine Welt enthalten war. – Plato lag auf seinem Tisch in der Schlafkammer, und er war alle Morgen seine erste Lektüre – Ihre Hefte lagen in seinem Geheim-Schreibpult, bei seinem Gelde und den Briefen der innigsten Freundschaft. Schleiermacher durfte nur seines Herzens Heiligtum errathen; aber Schleiermacher schien ihm zu göttlich, um Ihm seine irdischen Wünsche offen darzulegen. Dies hohe Lied der Gegenwart, und Sokrates, als das Idol der Sittlichkeit standen ihm stets vor dem Auge des Gemüths – um es zu erreichen. Und er hätte es erreicht. Alle seine Freunde hielten ihn schon izt für ein Tugendmuster – ja ich gestehe es, daß es mich | 15v zuweilen wehmüthig machte, in seiner Jugend einen sokratischen Weisen zu sehn. Es mußte ihm Neid und Verkleinerung der Schlechten zuziehn. Edle Weiber hielten ihn für den liebenswürdigsten Mann, gute Männer suchten ihn als treffendurtheilenden Gelehrten, einige Ärzte wie Treviranus ahneten in ihm den größten bremischen Arzt. Er hatte in Paris, wie in einem Schmelzofen, seine rechte Läuterung erstanden – Ganz verändert kam er wieder – männlicher, kräftiger – voll deutschen Selbstgefühls und Stolz auf deutsche Bildung und Geisteshöhe – und voll tiefes Hasses gegen die übermüthigen Tyrannen und eitlen Selbstlinge. Jeder Schritt der ungerechten Gewalt war ihm eine Kreuzigung – aber er sprach nur unter Vertrauten mit Feuer sein Herz aus.

Er war mit Lust Arzt. Ich rieth ihm vorm Jahr noch Schulmann zu werden. Die Stelle stand ihm offen, die sein Freund Harscher nicht annahm. Er sagte aber, daß er ein glücklicher Arzt sey, und ein schlechter Lehrer seyn werde, besonders weil er nicht genug griechisch könne. Er hatte viel Glück in der Praxis – die Armen bezahlten lieber die Arzenei, wenn er nur kam – statt beim Armenarzt, arzneifrei zu seyn. Was er beim Mittelstand verdiente, brauchte er für die reconvalescirenden Armen. Er hatte | 16 einen erstaunend richtigen Blick in der Beurtheilung der Übel – zE. unserem ersten Bürgermeister, dem die besten Aerzte nicht rathen konnten, schaffte er mit Hülfe Mursinna's einen passenden Bruchring pp. Für die Richtung dieses Blicks hatte er eine unbegränzte Hochachtung für Reil.

Fünf Wochen vor seinem Tode sagte er, wenn mich jemand retten kann, so ists nur allein Reil. Ich sagte ihm, daß er gleich schreiben sollte. Aber er meinte – Reil würde ihm seiner vielen Geschäfte wegen nicht antworten – im Grunde hielt er sich gegen Reil für zu unwerth – vielleicht glaubte er auch, daß es für einen so weiten Briefwechsel doch zu spät sey; zumal er gewiß selbst glaubte, daß von dem Faulfieber ein örtlicher Fehler geblieben sey. Er klagte seit 1/2 Jahre beiläufig über Schwäche – seit dem Magnetisiren über Schlaflosigkeit und Krampf in den Beinen – er schlug auch eine reiche Dame zu magnetisiren an, weil wir darauf bestanden. Es ist offenbar, daß das Magnetisiren materielle Kraft abgiebt – ich mußte es einige mal thun, weil bei keinem die Intension war, nach ihm, als beim Vater – aber er merkte auch meinen Verlust im schwächeren Magen, und wollte es nicht mehr haben. Gegen den September bekam er stetigen Durchfall – er brauchte nichts, und ging dabei die weiten Wege – weil ihm nun ein Theil des Armendistrikts übertragen war. | 16v Im schlechten Wetter kam er mehr mal verkältet nach HauseAutorfußnote (über der Zeile)⎡Anfänglich hustete er, und ich war bang vor Lungensucht – Schweißtreibende Mittel halfen nichts – seine Haut blieb immer kühl und trocken. klagte über kalte Füße und Hämorhiden – weil er seines geschwächten Zustandes wegen nicht schnell genug gehen könne. Wir redeten ihm zu, eine Kur zu gebrauchen. Da hatte er der Schwester gesagt – Er müsse eine lange Chinakur gebrauchen und dies sey zu theuer für den Vater – noch weniger eine Brunnenreise p Er selbst mußte seinen wenigen Verdienst für Einquartirung und gezwungene Anleihe geben – denn er wurde als praktischer Arzt auf 3000 r. geschätzt p dies machte ihn besonders ärgerlich traurig ob es gleich niemand wußte, als die Schwester. Was sie mir sagen durfte, zwang mich, ihn nach Berlin gehn zu laßen. Da kamen unerwartet einige Diakonen, und boten ihm ein Theil der Armen, welche ein nachläßiger Arzt ihm abtreten müsse – es kamen mehr Mittelstandsleute – und so blieb er – die Kranken kamen immer noch, als er selbst im Bette lag sie wollten zu keinem anderen. Er verschrieb sich selbst nur Kaskarille und Opium gegen den Durchfall – was ihm die 3. Ärzte verschrieben wirkte keine Änderung im Durchfall. Viel Moschus Anima Chinä, Naphta p nichts änderte den Puls –Autorfußnote (am unteren Rand)⎡Er blieb stets 70 bis 75 Schäge in die Minute. die besten Speisen und Weine fruchteten nichts. Die Hämorhiden hörte in den letzten 4. Wochen fast ganz auf. Aller Lebenssaft wurde ohne Ersatz verbraucht. – Man vermuthete, wie er selbst, einen organischen Fehler in der Leber. Bei der Sektion zeigte sich eine ungeheure große Leber, Milz und Galle – aber keine Geschwüre. Seine Hülle begleiteten über 200 Jünglinge – 18 – Freunde meist Doktoren | 17 so that es meinem Herzen wohl, die gedachten Töne seiner Schwester noch an seinem Grabe verhallen zu laßen. Das arme Wesen, welche ihm bis den letzten Mittag noch, wo sie ihn nach eigenem Verlangen nicht mehr sehn durfte, – Mozartische Sonaten vorspielen mußte – und er sich immer zurecht legte, um unter den Tönen, welche unter seinem Zimmer im Musiksaal erklangen – einzuschlafen – das arme Wesen, welches den schönen Zweck wußte, erlag fast unter dem liebenden Spiel. Am Sonntag den 6ten wie der Brief an Sie wegging spielte ich mit ihr Riems 4händige Sonate – ich konnte aber aus den tränenden Augen kaum Noten sehn – und die Schwächere gewann aus unbeschreiblicher Liebe die Kraft, den Bruder in die himlischen Gefilde hinüber zu spielen.

Laßen Sie die kleinen Chöre einmal Zelter darstellen. Sie thun mit lauter Männerstimmen im großen Raum treffliche Wirkung. Grüßen Sie ihn gelegentlich, und sagen ihm daß wir durch sein Beispiel aufgemuntert, eine ähnliche Gesellschaft errichtet, und ihm dankbar nacheifern.

Auch beiliegende kleine Blätter bitte ich Herrn Harscher zu übergeben, wenn Sie es seiner Gesundheit zuträglich finden.

Meine herzliche Hochachtung an Reil, dem Sie obiges mittheilen, um Adolf zu entschuldigen und mich, daß ich im letzten Brief nichts von seinem Krankheitszustande schrieb – weil ichs alles für zu spät hielt – so wie er schon früher – und | 17v wahrscheinlich war auch izt durch nichts mehr etwas zu ändern. So wie er mir das Geheimniß entdeckt hatte, wurde er zusehens heiterer stärker, ging wieder in der Stube – und wir hatten die beste Hoffnung – da Caroline doch für ihn verlohren war, so wollte er um der Demoiselle Gröning, Tochter des Pariser Gesandten – die ihm in Paris so nah ans Herz trat, weil sie mit dem gänzlich liebenswürdigen weiblichen Wesen Caroline so ähnlich sey – recht ins Auge sehn – fragte mich wie wir uns einrichten wollten pp da hatte er so gewaltigen Appetit nach englischem Bier, der Arzt erlaubte und er erbrach sich schrecklich – nachher nocheinmal verlangte er Krog – weil er der Naphtha ähnlich wäre, meinte Olbers, könnte er ihm nichts schaden – Auch da brach er sich – und dadurch wurden seine Kräfte immer um 100 perCent verringert – Ach Gott, ich komme wieder ins Erzählen –

Noch schicke ich Ihnen eine Zeichnung, die ich den Mittag – 10 Stunden vor seinem Tode, wie er so im tiefen Schlaf mit verbundenem Gesicht, weil der warme Überschlag noch die verhärtete Drüse erweichen sollte. – Olbers sah ihn 6. Stunden vor seinem Ende ruhig schlummern – und sagte beim Weggehn, es ist ein wahres sterbenden Christus Gesicht – das sagten manche im Geheimen schon bei seinem Leben – Sein mildes Auge mit dem freundlichen Munde trug vieles dazu bei – seine Ernst und Sittenreinheit

Beiliegenden 3ten Theil der Meisterstücke verschmähen Sie nicht.

Zitierhinweis

3584: Von Wilhelm Christian Müller. Bremen, Montag, 28.1.1811, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007586 (Stand: 26.7.2022)

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