Paris, d. 30. Aug. 1815.

Die Verspätung meiner Antwort auf Ihr wohlwollendes Schreiben, mein theurer Freund, wollen Sie gutmüthig entschuldigen. Nicht etwa die Zer streuung dieser Hauptstadt, wohl aber andre Beschäftigungen haben mich davon abgehalten.

Ihre Wünsche in Betreff der hiesigen Bibliothek sind denen übergeben, die mit der Vindicirung der Kunst- und wissenschaftlichen Gegenstände beauftragt sind, aber mit keinen großen Hoffnungen des Gelingens von meiner Seite. Wir haben mit vielen Schwierigkeiten dabei zu kämpfen, und während wir auf der einen Seite Gewalt gegen die Franzosen brau chen, müssen wir auf der andern verstohlen gegen unsre Verbündeten handeln. Selbst unsre deutschen Landsleute handeln gegen uns.

In der Politik sieht es schlimm aus. Der Kaiser Alexander will an Frankreich einen Verbündeten sich erhalten, und darum soll ihm nichts geschehen. Die englischen Minister fürchten, daß hierdurch ein neuer Krieg ausbrechen könne, und wollen deswegen ebenfalls nicht Provinzen von Frankreich trennen; nur zu einstweiliger Besetzung von einigen Fe stungen und zur Contributionsforderung rathen sie. Oestreich buhlt ebenfalls um Frankreichs Freundschaft, ist daher unentschlossen, und be sorgt daß Rußland ihm zuvorkommen oder ein Krieg ausbrechen möge. Preußen allein fordert was Recht ist, steht aber allein und nur durch gute Wünsche von den Kleineren unterstützt. So soll demnach das unglückli che Deutschland stets die Gefahren neuer Kriege bestehen, die Niederla gen durch Verluste von Provinzen büßen, von Siegen aber keinen Vor­theil ziehen. Die süddeutschen Fürsten werden bei einer solchen Gestaltung der Dinge bald gewahr werden, auf welcher Seite mehr Vortheil ist, und ihren Frieden mit Frankreich schnell genug machen. So haben wir zwar die alten Gefahren abgewendet, neue aber uns erfochten. Es ist im Buche des Schicksals geschrieben, daß Preußen große Prüfungen bestehen soll: wir müssen was uns auferlegt ist mit Standhaftigkeit tragen. Möglich daß wir einst darüber zu Grunde gehen; wir müssen unsre Kinder darauf vorbereiten, daß es mit Würde geschehe, wenn es sein muß. Doch, das Glück hat so oft über uns gewaltet, daß wir ihm auch fernerhin in etwas vertrauen mögen. Gott befohlen, mein theurer Freund; empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin und gedenken Sie meiner mit Wohlwollen.

Zitierhinweis

4168: Von August Wilhelm Anton Graf Neidhardt von Gneisenau. Paris, Mittwoch, 30.8.1815, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007517 (Stand: 26.7.2022)

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