Breslau, den 20 Febr. 1811.

Sie versprachen mir in Ihrem lezten Briefchen noch einen längeren Brief, der bald nachfolgen sollte und lange und sehnlich habe ich darnach ausgesehen. Ich weiß aber, wie es mit so etwas geht, liebster Schleiermacher bei Ihnen zumahl, da Sie Ihrer Zeit so wenig Herr sind. Einige Zeilen werden auch von mir indeßen durch den Grafen Stosch bei Ihnen angelangt sein, nebst mündlichen Nachrichten, wie es uns geht. Ihnen ausführlicher zu schreiben, über allerlei, was ich Ihnen schon längst mittheilen wollte, soll aber nun auch nicht länger verschoben werden.

Daß ich Ihrer in Gnadenfrei  korr. v. Hg. aus: gedachtegedacht habe, war unvermeidlich, da ich überall gefragt ward und daß ich dabei mit aller Wärme und Liebe für Sie sprach, war wohl natürlich und Sie werden mir dies auch nicht übel deuten wollen. Glauben Sie nicht, daß die Leute – ich meine die Geistlichen – so weit zurükk sind, daß Sie völlig von  korr. v. Hg. aus: Ihnenihnen mißverstanden werden könnten. Der alte Bischof hatte Ihre Reden gelesen nach der ersten Ausgabe; warum sollte ich ihm nicht die zweite empfelen, die ihm gewiß mehr zusagen wird. Ein junger Geistlicher Namens Reichel kannte einiges  korr. v. Hg. aus: uvon Schelling und andre neue philosophische Schriften, warum sollte ich Anstand nehmen, ihn an die Ihrigen zu weisen. Ihre Schwester, die so viel von Ihnen hält, fragte, ob ich Sie hätte predigen hören; warum sollte ich verschweigen was ich davon wuste! Ich habe den Leuten hernach Ihre Predigten und Gutachten geschikt und das kann Ihnen nicht schaden. Zu dem allen aber | 64v kam noch ein ganz eigner Umstand. Die Gemeine war durch die neuen Einrichtungen sehr besorgt gemacht, man würde sie in ihrer bisherigen Ruhe stören und einer andern Behörde unterwerfen; sie bat daher flehentlich, sie dagegen in Schuz zu nehmen; warum sollte ich ihr nicht versprechen, daß Sie in Berlin und ich in Breslau, so weit wir beide könnten, sie gewiß vertreten würden? Sie sehen aus diesem allen, liebster Schleiermacher daß ich hierbei nur gethan habe, was sich unmittelbar ergab und ich müßte Sie gar nicht lieb haben, wenn ich hätte anders handeln wollen. Wenn die Leute wünschen Ihre Bücher zu lesen; laßen Sie das geschehen; was ich ihnen gebe ist ihnen recht heilsam und was sie sonst etwa auftreiben, das werden sie weglegen, wenn es ihnen nicht zusagt.

Mit unsern Arbeiten bei der Deputation geht es noch immer nicht so rasch vorwärts als ich es wünsche. Wir können nur Einzelnes hie und da umbilden; für das Ganze wird erst etwas Tüchtiges geschehen können, wenn man von Berlin aus mehr thut als bisher. Und haben wir dazu unter den gegenwärtigen Umständen wohl Hofnung? Doch davon hernach. Wir warten noch immer auf die neue Kreiseintheilung von Schlesien, woran sich eine neue SuperintendenturBegrenzung anschließen soll. Diese ist durchaus nothwendig, und ich habe zu einer neuen Geschäftsinstruktion und Synodalordnung schon vorgearbeitet; unsre Schuld ists nicht, wenn das Gute verzögert wird. Wir hatten nur 2 Superintendenten, auf die wir uns verlaßen konnten; davon ist einer (Krautwadel) gestorben; der andre hat 41 Kirchen und fast 300 Schul | 65lehrer zu inspiciren; dazu sein Predigtamt, das kann mit einer neuen Ordnung der Dinge nicht bestehen. Mit den übrigen ist nichts anzufangen; sie sind meistens alt und so im Schlendrian verseßen, daß sie erschrekken, wenn etwas davon abweicht. Neulich foderte ich die sämmtlichen Predigten, oder Entwürfe des lezten Jahres von 3 Predigern, die uns durch den Rumor als etwas fahrläßig bekant geworden waren, ohnerachtet sie in den Conduitenlisten alles Lob erhielten. Der Superintendent der die Arbeiten herbeischaffen sollte, schlug einen Lerm, als ob das Ende aller Dinge vor der Thür sei, so etwas habe er nie gehört p. Der Befehl hat also geschärft werden müßen und ich bin begierig, wie es ablaufen wird. So aber ists in allen Dingen; es ist demnach durchaus nothwendig, daß neues Leben in die Maße komme.

Einen Schulrath haben wir immer noch nicht. Nikolovius schreibt mir, ich sei im Irthum, wenn ich meine er solle blos für das gelehrte Schulwesen arbeiten, er sei noch mehr nothwendig für die Land- und Elementarschulen. Er mag es mir vergeben, daß ich seiner Meinung nicht sein kann. Freilich, fände sich Jemand, der hier ad utrumque paratus et aptus wäre, dann wohl; aber ich habe einen solchen nicht leicht gesehen. Die eigentlichen Philologen (und um einen solchen würden wir doch bitten) sehen gewöhnlich verächtlich auf die untern Sphären des Schulwesens herab und wißen es selten recht damit anzufangen und die, welche den Armen das Evangelium wollen gepredigt wißen, sind in der Regel nicht geschikt für die höhern Bildungsanstalten. Und so scheint es, wird der Mann, den man sucht, noch lange nicht gefunden werden. | 65v Und doch wünsche ich ihn jezt recht sehnlich. Denn eigentlich stehe ich in Absicht auf die wißenschaftlichen Mitglieder der Deputation sehr isolirt. Ihr Glaubensgenoße Wunster ist auch eine träge, indolente Natur und das einzige aber schlechte Erbstükk des ehemahligen OberConsistoriums.

Das Examiniren der Candidaten ist doch eine eigne Aufgabe. Einen Versuch habe ich gemacht, auch eine Ordination gehabt; aber das Examiniren ist mir nicht leicht geworden. Man kennt den Examinandus vorher nur aus seinen schriftlichen Arbeiten, und das  korr. v. Hg. aus: dasgiebt nicht immer einen sichern Maasstab für seine Ansicht und Studium. Ich spreche ihn daher gerne und lange, ehe die eigentliche Prüfung angeht, um den eigentlichen Boden zu finden, auf welchem man mit ihm handgemein werden kann. Wir haben unter uns die Fächer eingetheilt und ich habe die Dogmatik und Exegese des Neuen Testaments. Es ist indeßen ein lehrreiches Geschäft und ich zweifle nicht, daß ich es auch ordentlich treiben werde.

Ich schrieb Ihnen im Herbst, daß ich Vorlesungen halten wollte und es wird Ihnen gewiß lieb sein zu vernehmen, wie es damit gegangen ist. Zu meiner Freude muß ich sagen, es ist eine wirkliche Inspiration und der beste Gedanke gewesen, den ich vielleicht in Breslau gehabt habe. Ich fing im November an und werde mit dem März schließen. In dieser Zeit werde ich den historischen und philosophischen Theil Ihrer Encyklopädie vollenden; die praktische Theologie hatte ich mir vorgenommen, im künftigen Winter besonders und ausführlich vorzutragen. Aber auch die beiden ersten Theile | 66 sind weitläuftiger behandelt, als von Ihnen und das war hier nothwendig, um mit diesen den Leuten ganz fremden Sachen nicht unverständlich zu werden. Es hat mir aber wirklich viel Mühe gekostet und zu mancher Stunde habe ich einen ganzen Vormittag Präparation gebraucht, dabei aber auch das Vergnügen gehabt, daß ich ohne Heft einen freien Vortrag halten konnte. Ich bin dabei noch auf manche andre Ansichten gekommen, die mir sehr lieb sind, ob sie mir gleich aus den Ihrigen klaar hervorzugehen scheinen. So z.B. will es mir vorkommen, als ob die philosophische Moral und die christliche Sittenlehre sich verhalten wie die antike und moderne Geschichte und keine andre Differenz als die der Zeit zwischen beiden statt finden könne. Und eben so scheint mir der christlichen Dogmatik im Alterthum gegenüberzustehen die Physik. Ich habe darüber etwas aufgesezt, das ich Ihnen doch gelegentlich mittheilen will. Ueberhaupt aber sind diese Vorlesungen für mich sehr lehrreich und ich habe nun Ihre Vorträge erst recht zu verdauen angefangen. Zu meiner Freude ist mein Bestreben aber auch gut aufgenommen und ich habe über 30 Zuhörer und unter diesen sogar 6 Catholiken, die alle bis jezt treu aushalten. Dies ist über meine Erwartung gewesen und hat mir das Zutrauen der jungen Geistlichen erworben, an die man sich doch allein mit Erfolg wenden kann. Glauben Sie aber nicht liebster Schleiermacher daß ich mich so gradehin mit Ihren Federn geschmükt habe; gleich in der ersten Stunde sagte ich den Leuten rein heraus, es sei nicht von dem Meinen, das ich ihnen gebe; denn es liegt mir ja alles daran daß die Geistlichen Ihre Schriften lesen und so weit sie es vermögen, Ihren Sinn annehmen. | 66v

Ihre Encyklopädie habe ich schon aber nur erst flüchtig lesen können. Manches sehe ich doch hat sich in der Stellung verändert und wie es mir scheint, dadurch gewonnen und ich hoffe, daß nun doch mehrere meiner Zuhörer sich darin finden sollen.

Und nun laßen Sie mich auf einen andern Gegenstand kommen, der mich seit einigen Tagen erfreut und beschäftigt. Wir haben hier aus Frankfurth die Nachricht erhalten, die dortige Universität werde hierher versezt werden. Das wäre ja etwas herrliches und zugleich etwas sehr heilsames für Schlesien, wo es mit der Fabrikation beßer geht, als mit der geistigen Cultur. Die Sache wird sich wohl bald entwikkeln und gewiß schreiben Sie mir bald etwas davon. Daß ich auch für mich einen besondern Wunsch dabei habe, will ich Ihnen nicht verhalten, nemlich den, Universitätsprediger zu werden, wenn ein solcher, wie man es ja thun kann, angestellt werden sollte. Eine Kirche ist dazu noch da, die ehemahlige Jesuitenkirche an dem Universitätsgebäude und mich kann man sehr wohlfeil haben, indem dann die 400 rthr Wartegeld, die ich erhalte, zurükkgehen. Auch wäre es vielleicht künftig möglich, daß ich noch die Leitung eines Predigerseminars übernehmen könnte. Sie werden mir dies nicht als Projektmacherei auslegen. Ich wünsche recht sehnlich eine Canzel zu haben, denn die hiesigen Geistlichen werden immer schwüriger, mir die ihrigen zu öfnen. Und wenn es vielleicht auch geschehen mögte, daß ich hier Stadtprediger würde, so kann sich dies noch mehrere Jahre verziehen. Darneben muß ich Ihnen auch aufrichtig gestehen, es ist viel beßer, wenn die Deputation wenigstens Ein Mitglied hat, das von den städtischen Verhältnißen ganz frei ist, denn es wird | 67 nie an unangenehmen Verwikkelungen fehlen, jene Verhältniße mögen bestimmt werden, wie sie wollen, selbst wenn das StadtKonsistorium ganz aufgehoben würde. Schreiben Sie mir doch Ihre Meinung darüber und was Sie dabei für mich zu thun erachten.

Wie geht es denn im Departement? Unsre guten Erwartungen sind sehr gesunken, seit Schuckmann dazu gerufen ist; doch denke ich nicht, daß man sich in der Hauptsache wird stören laßen. Nikolovius wird ja bleiben, höre ich und mögte es gerne glauben und aber noch mehr hoffe ich, Schuckmann wird sich an dieser Stelle nicht lange erhalten. Es ist doch, als wenn ein Unsegen auf der Verwaltung der Kirchenangelegenheiten ruhte; schon mit Zedlitz haben die Mißgriffe angefangen und mit einer kleinen Unterbrechung seitdem fortgedauert und wenn man sich bemüht hätte, immer den ungeschiktesten zu suchen, man hätte  korr. v. Hg. aus: eses kaum anders treffen können.

Wie es in unserm Hause steht, werden Sie von Reimer, dem ich vor einigen Tagen schrieb gehört haben. Laßen Sie uns auch bald wißen, was Weib und Kind bei Ihnen machen. Wann werde ich Sie mahl als Vater mit dem Töchterchen auf dem Arm sehen! Den nächsten Sommer kann ich noch nicht nach Berlin kommen, so gerne ich auch wollte. Wilhelmine geht nach Landeck und Reinerz und da mir davon sehr viel Gutes für sie verheißen wird, so muß es schon allem übrigen voran gehen. Ich selbst werde wohl eine Geschäftsreise machen müßen; das ist auch nothwendig.

Die Unruhen in OberSchlesien wollen noch nicht nachlaßen, Gestern ist von hier das Cavallerieregiment ausgerükt. Die Bauern im Pleßischen haben zwar erklärt, sie würden sich nicht empören, aber sie wollten auch | 67v nicht arbeiten. Eine Kleinigkeit ist [es] auf keinen Fall und ich wünsche herzlich, es mögte erst wieder ruhig sein.

Sprechen Sie Nikolovius so bitte ich mich ihm zu empfelen und er mögte mich doch wißen laßen, ob wir von den Candidaten, welche die Regierung nach der Schweitz geschikt einen bekommen könnten und etwa zu welcher Zeit, wie ich ihn darum gebeten hätte.

Tausend Grüße an die Ihrigen und an alle unsre Freunde. Leben Sie wohl und schreiben Sie mir bald. Von ganzem Herzen

der Ihrige Gaß.


Werden denn Marheineke und Böckh zu Ostern noch kommen? Werden Sie Bredow nach Leipzig laßen? Ich weiß sehr gewiß, man hat sich in Dresden darauf gesezt, ihn haben zu wollen; leiden Sie es doch nicht.

Zitierhinweis

3595: Von Joachim Christian Gaß. Breslau, Mittwoch, 20.2.1811, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007485 (Stand: 26.7.2022)

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