Breslau, den 4 Novbr. 10.

 Vgl. den Brief Ende Oktober von Charlotte Schleiermacher (SN 375/26, Bl. 24), der erst nach Drucklegung identifiziert werden konnte und unter der Nummer 3532a im Band KGA V/12 gegeben werden wird. [Schließen]Bei dem Anblikk der Einlage werden Sie gewiß gleich errathen, wie ich dazu gekommen bin. Ja, liebster Schleiermacher ich war vor einigen Tagen in Gnadenfrey und werde gewiß lange nicht vergeßen, wie wohl ich mich dort gefühlt habe. Ihre liebe Schwester ist wohl; sie hält unbeschreiblich viel von Ihnen und es war ihr eine große Freude, daß ich ihr noch mehr von Ihnen erzählen konnte, als  korr. v. Hg. aus: Siesie wuste. Sie meinte, der einliegende Brief habe keine große Eile, daher ich ihn mit diesen Zeilen begleite und durch die gute Gelegenheit, die sich mir eben darbietet, überschikke.

Sie wißen, daß ich schon in Berlin wünschte, recht bald die Brüdergemeine zu sehen. Dieser Wunsch ward hier noch lebhafter, da die Geistlichen und Vorsteher in Gnadenfrey, denen ich durch den Grafen Reuß in Stohnsdorf bekannt geworden war, mich zu einem Besuch schriftlich und mündlich einladen ließen.  Vgl. Brief 3529 von Charlotte Schleiermacher  [Schließen] Ich ordnete meine Reise so an, daß ich einen ganzen Sontag dort bleiben konnte und traf es so gut, daß ich noch am Abend meiner Ankunft bei der Abendmahlsfeier und am Sontage Abend bei der Ordination eines Geistlichen zugegen war. | 60v Ich kann Ihnen nicht sagen, mit wieviel Liebe und Herzlichkeit mich diese guten Leute aufgenommen haben, und ich glaube, daß wir mit großer Zufriedenheit über unsre gegenseitige Bekanntschaft von einander geschieden sind. An dem Prediger  Vielleicht ein Schulfreund Schleiermachers aus Niesky  [Schließen] Cröger fand ich noch einen alten Bekannten von Ihnen, welches Gelegenheit gab, daß wir viel von Ihnen sprachen, und ich den guten Leuten manchen Irthum benehmen konnte, worin sie in Beziehung auf Sie zu sein schienen. – Meine frühere Bekantschaft mit der Brüdergemeine schwebt mir nur noch als eine dunkle Erinnerung vor; aber ich glaube jezt doch recht gesehen zu haben, daß sie unbeschadet ihrer Eigenthümlichkeit unmerklich von der Zeit fortgezogen sei und eben dadurch eher gewonnen als verloren habe. Die Predigt und die Gebete waren gewiß eben so christlich als ehedem, aber völlig frei von den spielenden Vorstellungen und Bildern, worin sie sich ehedem so wohl gefielen. Und in dem ganzen gemeinschaftlichen Leben zeigte sich bei unveränderter innerer Ruhe, eine so liebenswürdige Heiterkeit und Unbefangenheit, die meine Erwartung übertraf. Der Geist der Liberalität der doch keinesweges in einen irdischen Sinn ausgeartet ist, oder auch nur einen Anstrich davon hätte, zeigte sich mir besonders auffallend in der Erziehungsanstalt für Töchter, die Sie dort gewiß auch gesehen haben, und wovon ich so eingenommen bin, daß ich  Cecilie Gaß [Schließen] Cäcilien hinschikken würde, wenn sie das erforderliche Alter hätte.   | 61 Der Bischof Dober erzählte mir dabei, das Institut sei in Berlin bekannt geworden, man habe ihm mehrere Fragen zur Beantwortung darüber zugeschikt und er schien besorgt zu sein, es mögte einer besondern Behörde unterworfen werden. Ich habe ihn, so gut ich konnte, darüber beruhigt; auch hieße es die Anstalt halb vernichten, wenn ein fremdartiger Einfluß darauf verstattet würde und gewiß sorgen Sie selbst dafür, daß es nicht geschieht, wenn man je auf den Einfall kommen sollte. Schreiben Sie mir doch ein Wort darüber, damit ich alle Besorgniß dieser Art entfernen kann.

Wie es uns hier geht auch in Absicht auf meinen Beruf werden Sie wohl von Rehdiger erfahren, der Ihnen diese Briefe mitbringt. Ich bin noch ziemlich zufrieden mit dem Gange der Geschäfte, harre aber sehnlich auf manche Entscheidungen und nähere Bestimmungen der Sektion. Treiben Sie doch, damit mahl was Allgemeines und Kräftiges erfolge, oder man hier doch erfahre, wo es hinaussoll. Diesen Winter werden wir noch das allgemeine Schulreglement für die Landschulen entwerfen, aber dazu müßen dann auch tüchtigere Lehrer sein als bisher, weshalb eine Reform des hiesigen Schullehrer-Seminars sehr nöthig ist. Mein College Fischer ist der Direktor deßelben und ich habe schon leise bei ihm angeklopft, es will aber nicht helfen und so wird denn nächstens sehr ernstlich darüber gesprochen werden müßen. Das beste wird sein, ich laße einen tüchtigen Lehrer dazu aus der Schweitz kommen; ist er hier so soll man ihn schon besolden, denn Geld  | 61v ist noch da und das Zutrauen des Präsidenten giebt mir ziemlich freie Hände. Wegen eines Seminars für die gelehrten Schulen und wegen des anzustellenden Schulraths habe ich an Süvern geschrieben. Dies mußte ich schon thun um der Sache willen und weil ich in den wunderlichen Verdacht gekommen war, als wollte ich auch zugleich den Schulrath machen, da ich doch mit der Kirche und der Geistlichkeit vollauf zu thun habe.

Mit den Candidaten muß es hiesigen Ortes und Landes auch anders werden, und ich denke es ist das Beste, ohne weitere Vorbereitung hier in Breslau selbst etwas für sie anzufangen. Es giebt hier eine Anzahl sogenanter General-Substituten (ich glaube 10 oder 12) die schon ordinirt sind und als soufre-douleurs der Geistlichen zu dem gebraucht werden, was kein Andrer thun mag. Dafür rükken sie künftig in erledigte Stellen; für jezt aber kümmert sich kein Mensch um sie anders als wer sie braucht, niemand fragt nach ihrem Studiren und dergleichen. So elend die Sache jezt ist, so kann daraus doch etwas beßres werden. Ich bin daher auf den Gedanken gekommen, diesen Leuten und den übrigen hiesigen Candidaten Vorlesungen zu halten 2 mahl öffentlich und wöchentlich über das Studium der Theologie  Friedrich Schleiermacher: „Kurze Darstellung des Theologischen Studiums“ (1811), vgl. KGA I/6, S. 243-446. [Schließen] so etwa wie  korr. v. Hg. aus: ihreIhre Encyklopädie. Abgesehen von dem Nutzen, den es für mich selbst hat, verspreche ich mir doch etwas Gutes davon für die jungen Leute. Ich bin selbst begierig, wie es gehen wird, aber es macht mir Vergnügen, mich so als Ihren Schüler zu denken. Künftig mehr davon. Wir grüßen alle Ihrigen und unsre Freunde herzlich. Ich höre die Universität hat mit 190 Studenten angefangen. Das geht schon an; wie viel sind darunter Theologen? Wie gefällt Ihnen Mar heinicke und de Wette ? Schreiben Sie mir doch bald. Von ganzem Herzen Lebe wohl.

G.

Zitierhinweis

3533: Von Joachim Christian Gaß. Breslau, Sonntag, 4. 11. 1810 , ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007362 (Stand: 26.7.2022)

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