Halle den 9ten Januar 10.
Ich erschrecke ordentlich, mein theurer lieber Schleiermacher indem ich
Vgl. Brief
3336.
[Schließen]Ihren letzten Brief, vom August 9. wieder ansehe wie es möglich gewesen daß ich in so
langer Zeit gar nichts directes von Ihnen gehört oder
gesehen. Machen Sie das doch bald wieder gut:
meinen Theil der Schuld mag das Erwarten Ihres Briefes, Marcus Phillip Ludwig de Obern (O’Bern), vgl.
Brief
3287.
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denn die doppelte Auction der Bücher und
Karten meines verstorbenen Collegen, die mir umfänglich viel Zeit
gekostet,
Langeweilen(?) und Verdruß die Menge verschaft
hat, Laster(?)keiten u.s.w.
tragen. In der That bin ich auch mit Geschäften jetzt
hinlänglich versehen, habe täglich
Religionsunterricht, höre Welche Vorlesungen Steffens im WS 1809/10 hielt,
ist nicht bekannt.
[Schließen]zwei Collegia bei
Steffens
und predige fleißig. Dies letztere macht mir des Memorirens
wegen sehr saure Arbeit, obgleich ich
Nachmittags wo sich ein durchaus verschiedenes Auditorium
einfindet von Anfange an frei gesprochen habe, bin ich doch
noch nicht im Stande gewesen meine Schüchternheit so weit
zu überwinden es auch Vormittags zu thun. Es ist gewis da
etwas nicht Rechtes darunter, auch soll es [...] werden, umsomehr da ich
überzeugt bin, bei gehöriger strenger
Vorbereitung viel eindringender und im anständigen Sinne
populärerer zu sprechen als zu schreiben. Denn
obwohl ich wie Gott weiß bewußt bin daß mir kein
Gedanke an Flunkern bei der Arbeit einfällt so sieht das
Zeug doch immer etwas steif und gemacht aus und eben daß
Steffens zuweilen damit zufrieden ist beweißt
nur wie wenig die übrigen es sein sollten. Man schreibt offenbar zu
gedrängt und zu schwer für die Leute
die es oft herzlich gut meinen mögen aber doch nicht
mitkommen können: Das Zitat konnte bisher nicht verifiziert
werden.
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Es sind mir da einige Worte Luthers
gewaltig aufs Herz gefallen, worin er von dem
Unterschiede spricht
zwischen dem
Ton seiner Predigten und dem der anderweitigen
Untersuchung und es ist wenngleich bei sehr veränderten Umständen doch immer
sehr viel wahres daran. Ich möchte Sie wohl einmal darüber
sprechen:
Sie würden erstaunen wenn Sie Rienäcker hörten, eine solche
Gründlichkeit, lebendige Darstellung | 50v herzliche Sprache und wahre Salbung ist mir
kaum vorgekommen, er ist unstreitig der erste Prediger hier
und weit und breit, doch sagen die Leute sie verständen ihn
nicht, was ich nun gar nicht verstehe da sie behaupten mich
der ich bei weitem weniger Ruhe und Reichthum und
wahre Dialektik habe, zu verstehn: Es ist mir bei allem dem
recht wehmühtig wenn ich von ihm spreche denn wer weiß wie lange
wir ihn noch haben, in seinem Gemüthe sieht es traurig aus.
Er führt eine höchst unglükliche Ehe, weil es scheint sie
werde kinderlos bleiben. Er ist im höchsten Grade
hypochondrisch, weist mit entsetzlicher Heftigkeit die Schuld der
Kinderlosigkeit bald auf seine Frau bald
auf sich. Glaubt sich verachtet und verspottet,
geht in einem Tage zehnmal von der zärtlichsten Liebe zu
den bittersten Vorwürfen gegen seine Frau über. Diesen Sommer
fürchteten wir er würde sich das Leben nehmen, er hatte
seine Frau oft
damit bedroht, dann wieder dringt er auf Scheidung, dann
will er sein Amt niederlegen, dann spricht er von einer
Schuld die er niemandem entdekt. Bei dem allem ist er im
Aeußeren still, zuweilen doch jetzt seltener,
heiter, und wie groß auch sein Vertrauen zu mir und Steffens so
wissen wir dies alles doch nur von seiner Frau und
einigen abgebrochenen eigenen Aeußerungen. Nur ganz
kürzlich hat Steffens der eben zu ihm kam als er einen
heftigen Auftritt mit seiner Frau gehabt und auf
Scheidung gedrungen und schon seinen
Abschied geschrieben hatte, Gelegenheit gefunden
ihm derb ins Gewissen zu reden: er schien überzeugt, und
denselben Nachmittag war alles wieder auf dem alten Flecke.
Gewis ist seine Frau obgleich ohne ihren Willen
etwas Schuld an der Heftigkeit seines Zustandes, sie mag
ganz gut sein aber sie ist leider höchst
ungeschikt, taktlos und es fehlt ihr gänzlich an
der hier so nöthigen Ruhe und Sanftmuth. Wir lassen ihn soweit die Umstände
es nur erlauben wenig aus den Augen, aber es schaudert uns
wenn wir daran denken wie das enden soll. Mitten aus diesen
gewaltigen Stürmen des Inneren setzt er sich an die Arbeit
und nur | 51 wir können leise Spuren seines geängsteten
Zustandes in seinen Predigten finden während
jeder andere nur das frömmste und
mildeste Gemüth darin ahnden könnte.
Wissen Sie irgend einen
Rath so thun Sie es, aber lassen Sie dies alles ja aufs
strengste unter uns bleiben.
In Hinsicht meiner kann ich Ihnen wenig erfreuliches sagen. Ich bin
ruhig und gefaßt aber ich weiß was mir abgeht und
mein Leben erscheint
mir überaus dürftig. Sie ist ewig dieselbe und jede Spur der anfänglichen
Befangenheit ist verschwunden, noch neulich sagte die Karoline Elisabeth Wucherer, Mutter der bei Blanc
mit „K“ benannten Caroline Wucherer
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Mutter
: Karoline
ist immer heiter. Und sie ist es oft so daß es mich beinahe
in Verzweiflung setzen könnte, und doch muß ich
mich schämen wenn ich sie betrachte. Ich habe es auch nicht
über mich gewinnen können diese Seite wieder zu berühren
und glaube auch nicht daß ich ihr viel helfen könnte. Als Müfling hier war, denn ich muß
Ihnen doch meine Thorheiten auch sagen, ging mit einem Male
das Gerücht er werde sie heirathen; und obwohl niemand
besser als ich das Gegentheil wissen konnte so bin ich doch in 4
Wochen nicht ruhig geworden und habe mich gar
nicht überwinden können den, allerdings etwas
albernen Menschen, zu sehen;
Charlotte Müffling
, Tochter der Elisabeth Wucherer und Schwester von Caroline
Wucherer, war am 12. 2. 1809 gestorben und hinterließ ihre Tochter Emma
Müffling.
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auch ist die Mutter wirklich oft
unerträglich wenn sie die Liebe zu dem Kinde so auf den
überträgt ob sie gleich das erbärmliche in seinen ganzen
militairischen Benehmen zuweilen einsieht, es ist
doch gewis schade daß das Kind ihm so
gleicht.
Eine Frage lieber Schleiermacher liegt mir sehr am Herzen. Sie können
leicht denken daß ich aus tausend Gründen lieber in Berlin als hier wäre, denn wie wunderlich
die Dinge auch noch aussehen mögen so scheint es mir doch sehr wahrscheinlich daß auch
Steffens
einmal dahin gerufen werde, sollte ich ihn verlieren, es würde mir vorkommen als
verließe ich zum ersten mal in meinem Leben das väterliche
Haus, dann steht mir doch über kurz oder lang in meinen
anderen Verhältnissen etwas bevor wovon ich noch gar nicht
begreife wie ich davon Zeuge sein konnte:
dies und vieles andere läßt | 51v mich wünschen wieder in Berlin angestellt zu werden. Daß dies
nicht bei der die fanzösische Gemeinde
[Schließen]Colonie geschehe versteht sich von selbst, denn wollten sie
mich auch so mag ich sie doch nicht. Nun ist aber in
Berlin nur eine Stelle die ich ohne
Indiskretion fordern kann, es ist die Prediger Stelle an der Charité
die wie
Rienäcker versichert zum Theil von Ihnen
abhängt. Sagen Sie mir
doch wie es darum steht, ob überhaupt Aussicht vorhanden
und ob Sie mit einiger Wahrscheinlichkeit nahe oder
fern. Die übrigen scheinbaren Nachtheile habe ich mir wohl
schon angesehen und meine mich darin zu
finden. Nur schlagen Sie mir nicht etwa eine andre von
Berlin entfernte Stelle vor,
das ist jetzt wenigstens nicht für mich.
Die Universitäten Helmstädt und Rinteln wurden im
Zuge der Verwaltungsreform 1809 geschlossen.
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Die Aufhebung lies: von
[Schließen]war
Helmstädt und
Rinteln ist jetzt
dekretirt,
von Theologen nennt man Wegscheider
und Pott
die man für Halle
bestimmt,
doch möchte letzterer es schwerlich annehmen. Die Klosterschule in Kloster Bergen nahe
Magdeburg
wurde 1810 geschlossen,
ihre Ausstattung wurde der
Universität
Halle
zugeschlagen.
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Auch Klosterbergen ist jetzt
aufgehoben.
Ich höre von hier und dort manches sehr erfreuliche von Ihrer
Gesundheit, Gott gebe daß es wahr sei.
Vgl. Brief
3386.
[Schließen]Sie werden wohl nun einen jungen Mann
kennen Stuhr
den eine übrigens sehr ehrenvolle Uebereilung von hier
vertrieben, Grüßen Sie ihn doch freundlich von
mir.
Ich muß nun schließen lieber Schleiermacher um Steffens Vorlesung
nicht zu versäumen,
Sie sollen meine ich auch eine rechte Freude an
seinem Vgl. Heinrich Steffens: „Über die
Bedeutung der Farben in der Natur“ , erschienen in: Runge,
„Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der
Farben zueinander, und ihrer vollständigen Affinität“, (1810).
[Schließen]Aufsatz über die Farben haben den Sie noch nicht kennen.
Grüßen Sie herzlich Anne (Nanny) Schleiermacher
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Nanny
, Reimer
und vor allen Dingen Ihre liebe Frau
die ich dann doch auch vor mehreren Jahren einmal
bei der Herz
gesehen habe,
wer weiß ob ich Sie beide nicht diesen Sommer schon einmal
wiedersehe.
Leben Sie recht wohl und schreiben Sie bald.
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