Ich ergreife die Gelegenheit, dass einer meiner eifrigen Zuhörer,  Schleiermacher las bereits im Vorfeld der Gründung der Universität im Wintersemester 1807/08 über das „System der Ethik“ und im Wintersemester 1809/10 über „Christliche Sittenlehre“, nach Gründung der Universität im Wintersemester 1811/12 über „Christliche Sittenlehre“ und erst im Wintersemester 1812/13 wieder über das „System der Sittenlehre“, vgl. A. Arndt u. W. Virmond: „ Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) “ (1992), S. 303–308. Der Überbringer ist Doktor Stuhr, vgl. Brief 3384  [Schließen] um unter deiner Anleitung die Ethik zu studiren, nach Berlin geht. Er ist doch wahrlich betrübt, dass du vom kleinen zum wirklichen grossen Berlin gezogen bist. Bei diesen Schmuz vollends ist es meinen Zuhörern höchst beschwerlich, und die meisten bleiben davon. Dieser – Herr Stuhr(?) , Dr. philos. der sich hier ein sonderbares Examen unterworfen hat, worin er den Prof. Tieftrunk, Maass und Hofbauer recht eigentlich examinirte – ich hatte meine Halskrankheit, sonst wære ich auch dabei gewesen – ist zwar nichts weniger als mit sich selbst einig, hat auch etwas wunderlich starres, ist aber doch [ein] herrlicher Mensch, voll schönen Eifers; der Geld hat, sich der Wissenschaft durchaus widmen [zu können], und hier in Halle viel gelernt hat, nachdem er ein paar müssige Jahre in Heidelberg und Goettingen zugebracht hat. Er hat eine sehr schöne und tüchtige Gesinnung, und hat sie in der lezten Zeit, bei sehr bedenkliche Fælle, die ich Dir hier nicht entwickeln kann, auf eine herrliche Weise bewæhrt – Er ist bloss deinetwegen in Berlin. So viel von ihm.

Ich wünsche dir ein glückliches neues Jahr, und mir mehr Verbindung mit dir als im vorigen. Dir muss das neue Jahr viel schönes versprechen. Ein angenehmer Wirkungskreis, eine glückliche Ehe – ein deutscher Fürst, Achtung, Zutrauen und ohne allen Zweifel eifrige Zuhörer. Was kann man Schöneres wünschen in dieser betrübten Zeit? Mir scheint der Glückstern nicht so günstig. Fast scheint es als wenn ich in meinem betrübten Exil noch lange werde seufzen müssen. Die Hofnung der Erlösung ist, wie du ohne allen Zweifel noch deutlicher einsiehst, wie ich, doch verschwunden. Und zum Glück ertrage ich dieses, wie so vieles, indem ich  | 43v mich jezt wieder sehr eifrig, mit dem beschæftige, was doch allein einen wahren Werth hat – Die Freundschaft ausgenommen, die Gottlob eben so wenig an Zeit, Ort und äussere Umstænde geknüpft ist.

Also von meinen Arbeiten. Im ganzen genommen bin noch nie so faul gewesen, wie im vorigen Jahr. Was mich in der ersten Hælfte stöhrte ausser die doppelte Krankheit, die fast den ganzen Winter wegnahm, weiss du. Der Sommer gieng weg in angenehme Zerstreuung. Aus Norden und Süden strömten Freund herbei und mein Haus war ein wahres Wirthshaus. Leider nicht zum Vortheil meines Beutels. Den Anfang machten meine  Johanna Reichardt [Schließen] Schwiegermutter , die, wie du weiss,  Vgl. Brief.  [Schließen]bei mir einzog, und  Wilhelm Grimm reiste 1809 nach Halle. [Schließen] Grimm mitbrachte, der den ganzen Sommer dablieb, dann Reimer, Sieweking, der ein 14 Tage blieb.  Ernst Ludvig von Berger (vgl. „ Was ich erlebte “, 1840–1843, Bd. 6, S. 210), Johann Erich und Anna von Berger, Graf Holck (ein Bruder der Anna von Berger: Christopher Conrad, Harald oder Julius Carl Christian von Holck) und Clemens von Brentano [Schließen] Mein und Bergers Bruder, die mehrere Tage blieben, Berger mit seiner Frau, die 4 Wochen bei uns logirten, Graf Holm , Bergers Schwager, Brentano , der sechs Wochen blieb, Die Brüder, die aus Süddeutschland zurückkehrten und 14 Tage blieben, Ohlenschlæger, der auf seine Rückreise einge Tage sich aufhielt, Grimm, der abermals ein drei Wochen hierblieb – Dergleichen ist zwar höchst angenehm, doch weder für das Arbeiten,  korr. v. Hg. aus: dochnoch für den Beutel. Und leider ist Halle jezt, als wenn man auf dem Lande wohnte, dass heisst, dass man sie alle allein amusiren muss. Auch stellen die meisten sich kaum vor  korr. v. Hg. aus: dasdass ein Mann mit 1000 Rthr. Gehalt verdammt arm sein kann – Närrisch genug, ich wollte von meinen Arbeiten anfangen, und kam in einer ganz andern Ecke hinein –

Also von meinen Arbeiten – Die meisten rühren von dem lezten Theil des Jahres her, Erstlich schon seit 3 Monathe ist die verfluchte alte  Henrich Steffens: „Geognostisch-geologische Aufsätze“ (1810) [Schließen] geognostisch-geologische Schrift fertig. An dem was so fertig wird hat man doch keine  | 44 rechte Freude – Mit vielem darin bin ich recht zufrieden – Mit dem Ganzen? – Wir wollen sehen was das Volk sagt – Vielleicht rühmt man eben, was ich tadle – Es ist mir sogar mit den Bessern so gegangen. Die Schrift ist 23 Bogen also dick genug. An die lezten Bogen hat der Buchdrucker 3 Monathe gedruckt. Er wollte sich wahrscheinlich rächen.

Über meine  Henrich Steffens: „Ueber die Idee der Universitäten“ (1809) [Schließen] Idee der Universität sag lieber nichts. Ich habe es vergessen. Die Gesinnung dachte ich læge klar darin, und die klare Einheit des Lebens und der Wissenschaft – Etwas ähnliches sagen zwar viele, mir dünkt nicht zum Besten. Allerdings wollen sie die genannte Einheit, aber drehen und kneifen das Leben, damit es in ihre Wissenschaft passen soll – Das Leben erscheint dann entweder widerspenstig, oder auf eine eckelhafte Weise gehorsam wie „die artigen Kinder“ – Oder sie plagen sich mit zwei Kinder von welchem mir das, was immer ausgeschimpft wird, eben der Widerspenstigkeit wegen, troz der Dummheit am besten gefällt – Ich glaubte es wære bei mir nicht der Fall gewesen, glaubte einige würden das merken – Ich habe mich geirrt, Es kræht weder Hund noch Hahn danach – Der eine der in der Nacht bellt – die hiesige Litteratur Zeitung , wird sich hüten, der zweite, der bei Wetterverænderung und Tagesanbruch zu kræhen anfængt, hat nichts gewittert, und weder Sonnenschein nach den trüben Tage, noch Morgenröthe verkündigt – Also ist es wohl nichts und Gottlob nur wenige Wogen. Ich selbst legte nie vielen Werth darauf.

 Sachanmerkung:

Aber ... und tief.] 
Vgl. Heinrich Steffens: „Über die Bedeutung der Farben in der Natur“, erschienen in: Runge, P. O.: „Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zueinander, und ihrer vollständigen Affinität“ (1810)

sonders ... holen ,] lies: sonders,
 [Schließen]
Aber der Teufel hol euch sammt und sonders  Vom Hg. korrigiert. holen , wenn ihr nicht Respect für etwas habt – zwar nur 2–3 Bogen, das ich für Runge ausgearbeitet habe, über die Bedeutung der Farben in der Natur. Es ist ohne Bedenken das Beste  | 44v was ich jemals schrieb. Von Seiten der Sprache, der Darstellung, der Ideen ist es gewiss das Gelungenste. Und wunderbar wovon ich selbst am wenigsten zu wissen glaubte. Aber freilich – Die Veranlassung war die glücklichste. Denn Runge’s Aufsaz ist über alle Beschreibung herrlich. Einfach, wahr, strenge und tief.
.

 Sachanmerkung:

Jezt ... Reils Beitræge.] 
Steffens plante einen Beitrag der unter dem Titel in den von Johann Christian Reil herausgegebenen „Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege“ in Halle in der Curtschen Buchhandlung publiziert wurde .

arbeite] lies: arbeite [ich]
 [Schließen]
Jezt arbeite an etwas über die physische Cuhrmethode für Reils Beitræge.
Ich hoffe es soll was werden. In ein paar Tage werde ich fertig. Ich arbeite, damit mein Vierteljahr Miethe ab –  Frau Bathe, Inhaberin der Curtschen Buchhandlung in Halle, vgl. Henrik Steffens: „Was ich erlebte“ Bd. 6 (1842), S. 23 f.  [Schließen]Denn die Verlegerin ist meine Wirthin .

Alles dieses sind nur Nebenarbeiten – Wie es mit der grossen zusammenhængt frage Reimer , dem ich heute auch schreibe –

Eben kam ein Herr von Haxthausen, der herkömmt mich zu hören, persich, chaldæisch, arabisch studirt, nach Indien reisen will, und wirklich Vieles zu wissen scheint.

Adiö lieber Schleierrmacher! behalte mich lieb, wenn ich fleissig bin denke ich immer am lebhaftesten an dich. Wie gern theilte ich alles mit dir. Ich bin hier entsezlich einsam – Es [ist] doch verflucht, dass wir nicht zusammen sind.

Grüss deine Frau tausendmahl – Wie gern kennten wir sie – Küss Deine Kinder in meinem Nahmen –  Kinder von Heinrich und Johanna Steffens [Schließen] Auch du würdest Clärchen und Anna liebgewinnen – und schreibe mir doch jezt endlich einmahl –

Dein HSteffens

[Hanne Steffens:]  Friederike (Riekchen) Reichardt, Halbschwester der Johanna Steffens [Schließen] Rieckchen wolte auch heute schreiben und kam nicht dazu, Sie grüst sehr und tuht es nächstens. –

Zitierhinweis

3386: Von Henrich und Johanna Steffens. Halle, vor dem 9. 1. 1810, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007215 (Stand: 26.7.2022)

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