In einer solchen Spanung wie ich in den lezten Wochen des verfloßnen
Jahres gewesen – besinne ich mich noch nie gelebt zu haben –
Heute am ersten Tage des Jahres 1810, da nun alles
entschieden, ist mirs zwar freyer – aber doch ganz eigen zu
Muthe – nicht um meinetwillen sondern Helene von Seidlitz
[Schließen]die
Theure
betreffend die das große entscheidende Wort nach langem Kampf
ausgesprochen und sich nun freilich an das staunen jammern
oder spötteln des Ganzen oder einzelner nicht
mehr kehren kann – ihr selbst wird mann auch jezt nichts
sagen – aber mich desto mehr mit Fragen, und
vielleicht auch mit Vorwürfen quälen das thut doch nicht gut
– – darum wollen wir uns bald wieder empfehlen – – – soltest du nach diesem
preludium nicht | 1v errathen, daß es meine gute
Seidliz ist, die mit dem
ersten Tage dieses neuen Jahres gleichsam eine neue Epoche
ihres Lebens anfängt? – – Du hast immer nahen Antheil an
ihren Begegnißen genommen ich melde dir es also ganz frisch daß sie heute dem Hauptmann
FreyHerrn von
Sell, der bey uns im quartier lag – indem es
mit seiner Liebe nach vielen Debatten von ihrer Seite,
immer dasselbe blieb – ihr, JaWort gegeben – und
wahrscheinlich noch vor Ostern ganz die Seine werden wird –
Gott laße es Beiden recht wohl gehen – auch Sell ist ein recht guter zwar hitziger doch
auch edler Mann der bey allen Wiederlegungen
und Zweifeln – die ihm mündlich | 2 und schriftlich
gemacht wurden nie ungeduldig ward – sondern
standhaft blieb – und mit vieler
Rührung, bei einer in seinen Augen langen
Wartezeit (es dauerte 5 Wochen ehe sie sich entschließen –
konte) jeden Strahl von Hofnung auffieng und Beide ohne
alles interresse blos ihr Glük in sich selbst finden. Freilich tritt
die Gute, aus der engen Verbindung mit der Gemeine dis hat
ihr auch den schreklichen Kampf gekostet – der sie
vielleicht selbst an seiner Seite noch oft traurig machen
wird – doch da sie in Habendorf
bleiben kan –
so lange er in solcher Nähe als Silberberg und
Frankestein – bleibt
– kann sie doch
den schönen Gottesdienst hier benuzen | 2v
wenn das Regiment nur nicht nach
Preußen versezt wird – sondern in Schlesien bleibt,
will es Sell
– aus wahrer Liebe zu ihr immer auf Tausch in der Habendorfer
Nähe antragen weil, das, wegen dem Bedürfniß ihres Herzens – gleich
die erste Bedingung war – und auch
Emilie von Seidlitz
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Emilie
die dieses Jahr in die Erziehungsanstalt in Gnadenfrei
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Anstalt
komt –
nach Wunsch zu besuchen – an diesem hängt denn nun der Apendix –
Lotte welche die Bertha von Seidlitz
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Bertha
erziehen soll, und
ferner ihre Stüze und Freundin
bleiben soll, –
Du wirst dich vielleicht wundern daß ich bei dieser
Gelegenheit nicht meine Zuflucht ins Schwestern
Haus nehme – | 3 aber mein Bester – das läßt sich
eher sagen als thun – alle Art von Beschäftigung an welche
ich sonst gewohnt war – ist an Andre gefallen und alles gut besezt
mich blos einem Strikzeug zu widmen – ist unmöglich und
wäre für mein Gemüth eher schädlich als nüzlich – mir in
einer andern Gemeine etwas zu suchen und aufzudringen fühle
ich mich nicht berufen – sondern mein Inres hat mir die ganze Zeit zugerufen
wenn es die Zustimung der
GemeinDirection hat – bey meiner guten
lieben Freundin mit welcher ich
schon so manches erlebt und durchgetragen haben | 3v zu leben, wie es ihr innigster Wunsch ist –, ohne Klammern mit Einfügungszeichen am linken
Rand
[Schließen](wenn sie gesünder wird, nehmlich wenn sie nicht
unter Jahres Frist heimgeht)
hat sie den Plan – wenn
Emilie nach 2 Jahren
aus der
Anstalt
komt – mir mit ihren
Töchtern im Schwesternhaus ein Stübchen zu miethen – damit die Kinder ganz in der
Gemeine erzogen werden – aber eher will sie Bertha nicht von
sich laßen – die Kleine hat
mich öfters schon dringend gebeten bei ihr zu bleiben – O
Gott – ich thue es auch der kleinen Unschuld gern – –
und mann hat – bey allem Ernst – den mann auch
hiebey sprechen | 4 läst – nichts dagegen.
Daß dir und deinem Kleblatt von Weibern der ganze Vorgang sehr
überraschend seyn wird, kann ich mir vorstellen – daß wenn nur irgend mehr Kälte in ihr
gewesen, und weniger Ueberzeugung daß – dieses bey
vielen gerechten Bedenklichkeiten und Schwierigkeiten
dennoch ihre Bestimung – es gewiß ruhmvoller im
Hinblik auf ihre Verwandten, in allen deutschen Gemeinen
für sie gewesen es abzusagen ist ohnstreitig – denn das lies: qu'en dira-t-on , sinngemäß: Gerede oder
Gerücht
[Schließen] qu’en donne(?)-t-on des Ganzen muß man oft überhören aber mann muß alles
mit | 4v angesehen, und die Trefliche so genau kennen
als ich – um dis leztere zu wünschen – so wirst Du ihr wohl
auch nebst Deinem Kleblatt alles gute wünschen –
und auch mir deine Zustimung geben – solte ich einstens
früh oder spät von ihr getrent werden, dann werde ich wohl
meine Zuflucht zu dir mein Lieber nehmen – möchtest du mit allen
deinen Lieben recht wohl und heiter ins
neue Jahr übergegangen seyn – ich umarme Euch Alle und
drüke jedes besonders an mein liebend Herz.
| 5d 14ten
Noch immer ist mein Brief hier der schon in den ersten Tagen dieses
Jahres zu Euch solte – Seitdem war in der vorigen Woche die
Verlobung von welcher Sell eigentlich
gar nichts wißen wolte weil sie nun aber hier
gewöhnlich und wegen der Kinder besonders Ehepakten sein müßen – war doch
Beiden alles zu trokken weil Pritviz der biedre
– doch vor Weichheit nichts sagen konte –
nur diese waren zugegen und des
Capitains Bruder mit seiner
Frau – viel
jünger als – er, aber auch
sehr instruirt doch nicht so gut und edel als der Capitain
– der bey jedem Besuch
eine Stige seines Lebens ganz offen erzählt – – sich ganz
hingiebt mit allen seinen Fehlern | 5v bey der oft bedenklichen Kränklichkeit – ausdauernde
Geduld und Opfer aller Art verspricht wie er es
beym Anfang der Ehevereinbarung
[Schließen]Capitulation gethan – Gott gebe daß alles im Fortgang so ausgeführt wird –
woran ich nicht zweiflen will – aber wie es bei einer doch
möglichen weiten Versezung werden wird –
sich von den Kindern und der Nähe von
Gnadenfrey zu trennen wenn
er es auch nicht von ihr verlangen solte – würde ihre Zärtlichkeit doch
für ihn sprechen – nun wir wollen sehen!
Pritvizes die ihn als bloße
Einquartirung schon kanten und schäzten – lieben ihn
sehr.
Sie die Schwester des Friedrich Julius von Seidlitz
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Seligen
| 6 könte am ersten dagegen
sein in aller Rüksicht und Hinsicht hat sich aber
höchst edel benommen und bey der Seidliz ihren schreklichen Kämpfen und Zweifeln am
mehrsten auf Entscheidung gedrungen
mich aber auch flehentlich gebeten sie so
lange keine Trenung von Habendorf statt findet nicht zu verlaßen – sowohl
wegen Bertha als
wegen des ihr jezt doppelt nötigen
Schwesterlichen Umgang – und auch
meiner Hülfreichen Handleistung wegen – das wäre wohl der
lezte Bewegungsgrund – wäre sie nicht zu arm Bertha zu
gleicher Zeit in die Anstalt zu geben – so würde ich sie verlaßen – aber
jemand anders außer der Gemeine zur Berta
| 6v
zu nehmen kan ich ihr nicht zu muthen, und müste
auch meinem Herzen Gewalt anthun – –
Schilden
– die ich gestern zum erstenmahl sprach – kann sich in mein
bleiben nicht finden – denn daß diese ganz schreklich über die arme Seidliz
herzieht, versteht sich; und meint – il faut couper tout court – je vous
donerai 12 heures par semaine – ce sont 12 Wahrscheinlich ist „en gros“ für ungefähr
gemeint.
[Schließen]gros
– Du lieber Gott – aber woher
das andre nehmen! auch kan ich dis jezt gar nicht erwägen
– bis ich merke, daß mann in Habendorf
nicht bleiben kann – überdis köntest Du mich jezt gar nicht unterstüzen
denn wenn es nicht beträchtlich sein kann – kome ich ins
am linken Rand von Bl. 5
[Schließen]gröste Elend – auch in der vollen Stube – denn an eine eigne
ist bei der Holz und Licht Theurung gar
nicht zu
am linken Rand von Bl. 5v
[Schließen]denken!!! Gern hätte ich an die süße Henriette Schleiermacher
[Schließen]
Jette
geschrieben aber das Papier ist zu Ende! der Brief muß
fort.
am linken Rand von Bl. 6
[Schließen]ich grüße sie und
Anne (Nanny) Schleiermacher
[Schließen]
Nany
herzlich – beide werden eigne Briefe
bekommen – küße die Kinder von Lotten – –
am linken Rand von Bl. 3
[Schließen]Bitte schreibe mir bald – sobald es Dir möglich Lotte.
am linken Rand von Bl. 1v
[Schließen]
bitte last mich
doch wißen ob ich den Vgl. Brief von
Henriette von Willich
[Schließen]LebensLauf über
am linken Rand von Bl. 2
[Schließen]die Post schikken soll, den Jette hier
sich hat abschreiben laßen
–
und ob Ihr meine Predigt von Albertini
am linken Rand von Bl. 2v
[Schließen]mitgenommen habt – denn seit Eurer Abreise ist sie
fort
am linken Rand von Bl. 1
[Schließen]
Vielen herzlichen Dank für die gütige Uebernehmung
meiner Rechnung bei Korn – recht inig habe ich mich darüber gefreut.
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