S. den 20. Jul. 09

Es ist mir schon einige Mahl so gewesen, lieber Schleiermacher, als ob ich dir den  darüber ein Fragezeichen [Schließen]Ru(h)m ablaufen wollte im Schreiben, denn es ist eine ganz eigne Sache mit dem plötzlichen Wandel der Gegenwart und Abwesenheit – so was abgebrochnes etwa als wenn man auf der Kanzel Gedanken verschlukt, die man, nicht von sich gegeben zu haben, nachher schmerzlich bereuet – aber es ward, eben weil wir noch immer so in Gedanken mit euch fortlebten und von euch fortsprachen; immer noch nichts daraus – Da nun aber etwas andres drohte, dazwischen zu kommen,  Vgl. Brief 3289. [Schließen]fiel dein Brief darein und alles ist in seinem Gleise. Eure plözliche Abreise von Poseriz war mir lieb, weil ich nicht hinkommen konnte; that mir leid, weil ich Euch ruhige Ausführung Eures Plans gönnte, hat mich aber doch nicht besorgt gemacht – sie werden schon durchkommen, dachte ich und so waren denn auch die andern um mich her,  Marianne von Willich [Schließen] Mariane höchstens ausgenommen, ziemlich ruhig – doch erstaunte uns nicht wenig die erste Nachricht – mit den Voraussezzungen des ruhigen Gleichmuths ist es wie mit den Documenten ohne Siegel – nun ist’s alles so weit gut – Solch ein Siegel, mein lieber Scheiermacher, möchte ich dir von Herzen auch nachgrade gönnen, ich meine in Absicht der Oeconomie – Ich kann freilich in der Ferne und bei meiner Beschränktheit nichts als meine guten Wünsche dazu beitragen, und mich selbst durch die Hofnung beruhigen, Ihr werdet ja durchkommen.  Henriette Schleiermacher [Schließen] Jettchen hat freilich, das muß sie mir nicht übel deuten, ein wenig jugendlich tief eingerissen – durch die nötig scheinende Einrichtung eigentlich sich ausgerichtet, so daß sie nun in etwa 3 Jahren keine Zinsen ziehen kann – das hätte sie sollen bleiben lassen. Doch ich will Straf- Mahn- und Lehr-amt dir überlassen – du wirst dir den Hausvater nicht nehmen lassen – es ist zwar nur das zeitliche, aber harmonique –

Grosse Freude macht mir Euer Beisammensein, wie’s nun ist und der Anteil, den die  Kinder der Henriette Schleiermacher, verwit. von Willich, aus erster Ehe  [Schließen] Kindlein , daran haben – die Liebe ist das vollkommenste, die der Kinder das reinste herrlichste Band – Wie wird es Euch und ihnen so wohlthun! | 10v

Von der Politik schweige ich – wie sie izt steht, bedrükt sie jedes rechtliche Herz – und wird es nicht vieleicht bald ganz zerrissen werden? wird nicht etwa jezt schon der vernichtende Schlag geschehen seyn? Wohl sind wir hier im Überwind als Individuen, aber als Glieder der Kette, als Teile des Allgemeinen, als gute Kosmopoliten – ergreift uns doch Schauder und Wehmuth – man kann doch nicht sich freun und frölich seyn – und ich begreife nur nicht, wie ihr dorten habt tanzen können – Wir haben keine Sitzillianer und keine Holländer noch Holsteiner, ja seitdem die lezten Gut und Blut für uns wagen wollenden Meklenburger davon gegangen, keine andre Militairs hier auf Jasmund gesehen, als die Compagnie, bei der mein  Johann Theodor von Willich [Schließen] Teodor izt zum Fähnrich avancirt ist. Vor einigen Wochen, da Pastor Frank (?) grade bei mir war, der nichts von diesem Commando wuste, wurde er in allem Ernst erschrekt, wie er aus der Wohnstube die ganze Compagnie auf meinem Hof einrükken sah – wir machen von Arcona aus Seelustfarthen mit einem dänischen Kaper, berichten täglich per Estafette nach Stralsund daß nichts zu berichten ist und erwarten izt in allem Ernst die Schweden, wärend wir fortfaren zu demoliren und zu contribuiren. Mein Korn, das fast keinen Preis hat, streue ich alles zum Fenster hinaus und die häufigen Regengüsse verbreiten das Fieber nun auch bis auf das neue Getreide, das sonst im Ganzen nicht schlecht stand – Wie hat uns das schöne Wetter seit Eurer Abreise verlassen! in Wolle gekleidet friert man dennoch seit länger als 2–3 Wochen – Indes haben wir doch, so recht en famille, eine herrliche Farth gemacht. – Klein und groß auf einen Wagen gepakt, die südöstliche Gegend Jasmunds befaren, mein Dubniz und  | 11 von da 1/5 des Uferkreises besucht, das wir nie gesehen hatten – Es war ein schöner Tag und wir wünschten Euch zurük zum Mitgenuß. – So haben wir auch einen vollständigen Besuch in Wiek gemacht, und von dort aus in voriger Woche die Erwiederung von 11 Personen erhalten – da aber war es solch Wetter, daß wir nicht nach Stubbenkammer kommen konnten – Mehrere Schwache waren auch unter uns; an Hasselbach insonderheit verzweifle ich, daß er je ein rüstiger Mann wird und sorge, daß seine  wohl bereits Charlotte Hasselbach, nicht mehr Schwarz [Schließen] Charlotte mit all ihrer resignation nicht zureicht. Ich selbst kämpfe fortwärend mit meinem Kopfschmerz und war Sonntag vor 8 Tagen in der Kirche, durch das Gedröhne im Kopf von dem Singen des Ehre sei Gott pp, beinahe von Sinnen gebracht – muste mein einstudirtes Thema aufgeben, fieng an aus Noth zu paraphrasiren, fand mich glüklich wieder und ward für den Tag geheilt. Nun bin ich durch Blutigel auf dem Wege der Besserung seit 8 Tagen so fortgerükt, daß der Plan zur schwedischen Reise, durch meine(?) schneller gegangnen Briefe von meiner  Charlotte von Willich [Schließen] Tochter beflügelt, beinahe gereift und nur noch von kleinen Umständen abhängig ist. Das Reisen kostet zwar Geld; indes wollte ich eben Geld dadurch gewinnen; so paßt Mittel und Zweck – und meine Tochter stärken gegen das Heimweh. Alle übrige hier sind ganz wohl, auch  Luise von Willich [Schließen] Louise bei uns, von Fieber frei seit nun 4 Wochen, dennoch bei der Buttergrüzze – Auch gar nichts verändertes; die Wochenrechnung abgelaufen, ein Hauptkampf aber in der Oekonomie siegreich beendigt, eine Weideteilung und Zusammenschiebung meiner zerstreuten Akkerstükke ganz nach meinen Wünschen, die nach einigen Jahren Verlustes desto reichlicheren Gewinn verspricht – Doch mit deinem Häuflein können wir uns nun recht lebendig in eurem  lies lat. für euer „Sein“ [Schließen]Esse vorstellen – nach der Schilderung die du uns davon aufstellst – Mich zieht besonders die glükliche Gegenwart und Zukunft der Kinder an, denen Du völliger Vater seyn wirst, als ich meinen eignen. Es ist unmöglich daß ich sie selbst nie  | 11v unterrichte, wie ich wollte und müste – dem anhaltenden stehn meine Verhältnisse, dem vollständigen mein Geschick im Wege – Ich danke Dir daher recht herzlich, daß Du die Sorge mit mir teilen willst – Du kennst meine Lage und unser ganzes hineingreifende personale und wirst über kurz oder lang ein Subject finden, das sich da hinein past. Ich könnte ja leicht und schnell einen Lohnknecht, vieleicht schön wohlfeil und bequem haben. Aber was wäre dann das Anders, als Verrath meiner Kleinen? Laß ihn immerhin an Geist und Gelehrsamkeit über mich hervorragen, ich kann darin keinen Wettkampf bestehen wollen, nur daß er am Herzen nicht unter mir stehe – bei dem Theodor besonders entwikkelt sich ganz frei ein höchst rechtlicher und, mehr als das, ein zart edler Sinn – wie ungerne wollte ich den im Schulstaube verkrüppelt sehen! Ach hilf mir, lieber Schleier! Alles andre ist Nebensache – Kann vieleicht der Krieg irgendwo einen wakkern jungen Mann verdrängen, gut leben ist mit und bei mir, biete alle deine Freunde in deinem ganzen Weltkreis auf, einen für meine Wünsche glüklichen Zufall wahrzunehmen – und gieb ihnen Vollmacht, wie ich sie dir gebe, ihre Zuversicht zu dem Christentum alle Bedingungen nach Willkühr abschliessen zu lassen. Sollte der Weile mir hier von ferne her etwas sich ergeben, so melde dirs augenbliklich. – Sollte Euch auch die verheerende Kriegsflamme näher kommen, sollten Einzelne oder Familien sich in den Schoos der Ruhe auf kürzere oder längre Zeit flüchten wollen; eine Zeile von Dir, daß ihre Aufname meinen kleinen Kreis hier nicht verdirbt: und ich garantire ihnen ein leidliches Asyl – Künftig Jahr denke ich auch meine  Die Kuranstalt Brunnenaue  [Schließen] Badeanstalt wieder aufzustuppen(?) und werde sie dann Dir recommandiren – Hast Du nun satt, lieber Schleier? wenn es mir wieder ankommt, schreibe ich wieder, und so du mir – mein Brief kann aber alt werden, ich schikke ihn nach Poseriz – er kann sich mit andern zusammen thun und so müßt Ihrs hübsch auch machen zur Ersparung des Postgeldes – Götemiz Garz , Poseriz , Sagard sind einander zu einem Couvert, und Ihr mit der Herz, wahr(?) genug dazu – Lezterer wie Deinem  Henriette und Anne (Nanny) Schleiermacher sowie die Kinder aus erster Ehe der Henriette Schleiermacher mit Ehrenfried von Willich [Schließen] Jettchen, Nanny und den Kleinchen meinen und unser aller herzlichen Gruß – dem Magenkrampf, Fieber und Zahnschmerz ein ἄπαγε!

CvW.

Zitierhinweis

3299: Von Heinrich Christoph von Willich. Sagard, Donnerstag, 20.7.1809, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007128 (Stand: 26.7.2022)

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