Weimar den 13.3.9.
Mit Freude ergreife ich die mir durch unsern Marwitz dargebotene
Gelegenheit, Ihnen, geliebter Lehrer, in dem ich meinen zweiten
Vater verehre, einige sichtbare Zeichen meines
Seins und Lebens zu senden. – Eine wunderbare Verkettung von
Umständen, in denen ich die Spuren einer höhern Hand nicht
verkennen konnte, hat mich hierher geführt. – Früher als ich
es hoffen durfte habe ich einen festen meinem innern Streben
entsprechenden Punkt für meine Thätigkeit erlangt. Die Ruhe
welche ein bestimmter mit Freiheit und Selbstbewußtsein
gewählter Würkungskreis nothwendig nach sich führt, fängt
an bei mir einzukehren je länger je mehr. – Meine aeußere
Ruhe wird durch die taumelvollen Begebenheiten des Tages
mannigfaltig getrübt. – Ich bin auf alles gefaßt, | 1v
denn ich weiß meinen Willen. Jetzt heißt es Mt 26,41
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Anfechtung fallet“. Gelassen und ohne Zagen werde ich, sobald ich es als
heilsam und nothwendig erkenne, meinen Homer zur Seite legen und den
guten Leuten von Süden her durch einige fühlbare Beweise
beurkunden daß in manchem Einzelnen das noch unentweicht
lebt, was für die Erscheinung aus dem Ganzen
gewichen scheint. –
Meine hiesigen Verhältnisse sind freundlich und bildend. Den Sinn für
Religion, der hier durch ein misverstandenes bodenloses
Haschen nach Kunst und Gelehrsamkeit fast ganz
zurückgedrängt war, suche ich zu wecken und wieder ins
sichtbare Leben zu rufen nach dem Maaße meiner religieusen
Gefühle. Es ist hier ein glüklicher Boden und eine
Empfänglichkeit für die höchste Angelegenheit
der Menschheit wie ich es nie zu | 2
hoffen gewagt. Die gänzliche Nullität der hiesigen
Geistlichen in Rüksicht des religieusen Gefühls hat auf die
Stimmung der Gemüther keinen geringen Einfluß
gehabt.
Nach Karoline Herders Bericht bat Herder Gott am Ende seines
Lebens, er möge ihm die Kraft geben, dass er „Adrastea“ noch zu Ende schreiben
kann. Diese
Äußerung wurde als Korrektur an seinen pantheistischen Auffassungen
aufgefasst; vgl. Karoline Herder an
Caroline Friederike von Berg
vom 9.1.1804, in: Johann Gottfried Herder : „Briefe“, Bd. 8
(1984), Nr. 236, S. 571, Z. 23-33.
[Schließen]
Herder, der schon sterbend noch eine Krisis seines
religieusen Gefühls erlebte, hat sich vergebens
bemüht in den letzten Tagen, seines
Lebens das wieder aufzubauen was er mit beispielloser
Gewissenlosigkeit in früheren Zeiten
zerst[ört.]
Entschuldigen Sie eine vielleicht
vorschnelle Frage: haben wir nicht Hoffnung bald von Ihnen die
Darstellung der christlichen Dogmatik zu erhalten?
Leben Sie glücklich in Ihrem freundlichen Kreise. Meine frommen Wünsche bei der heiligen Verbindung die Sie knüpfen wollen.
Unwandelbar
Ihr Sie liebender
J. Schulze.Zitierhinweis
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