Cassel den 21ten Nov.
Vgl. Brief
*2900.
[Schließen]Ich habe mir den heutigen Tag dazu ausersehn, bester Schleiermacher,
Ihnen zu schreiben und für den lieben,
lieben Brief zudanken, der mir eine so schöne
Zukunft für Sie eröffnet. Seyn Sie tausendfach gesegnet daß Sie
mich so bald an dieser Freude Theil nehmen liessen
die wohl niemand mehr beherzigen kann als
ich; die seit wir uns kennen garkeine schönre Empfindung
kannte als wenn ich Sie glücklich und sich freuen sah. Ich
habe nicht aufhören können daran zudenken bis ich mir Ihren
neuen Lebens Plan mit allen kleinen Umständen ganz fertig
ausgearbeitet hatte, der nun gar hell und
freundlich vor mir liegt. Ich möchte Ihnen noch viel
darüber sagen aber Sie haben so schön gesorgt daß einem gar
nichts zu wünschen übrig bleibt. Schleiermachers Verlobte
Henriette Charlotte Sophie von Willich
und ihre Kinder aus erster Ehe,
Henriette Pauline Marianne von Willich
und
Ehrenfried von Willich
[Schließen]Ich bin in Ihrem häuslichen Kreise schon ganz
einheimisch, sehe mich geliebt von der theuren Frau welche Sie Gattin
nennen, und spiele mit den Kindern. Leztere gestehe ich sind mir bey meinem arrangement
ganz besonders zustatten gekommen, und ich kann
Sie nicht genug dafür loben. Unbeschreiblich verlangt mich nun mehr
zuhören von all diesen geliebten Gegenständen, und
nicht wenig bilde ich mir auf die Die Verwandtschaftsbeziehung konnte nicht
aufgeklärt werden.
[Schließen]Verwandtschaft ein, daran haben Sie vieleicht | 22v noch nicht
einmahl gedacht. Was meynen Sie lieber Schleiermacher wenn Sie bey der
Herz ein Wort für mich einlegten? ich wage
kaum Sie zubitten mir zuschreiben da ich so
wenig von dem Genuß zurück geben kan den ihre Briefe mir
gewähren. Aber grüßen Sie sie ja recht innig; ich denke mir die
liebe Frau heute beschäftigt Ihnen ein kleines Fest
zubereiten; wo sind die
Zeiten hin wie mir dies Glück vergönnt war. Der in Halle gemeinsam verbrachte Geburtstag war
wohl 1805, ein Jahr drauf war Luise Reichardt in Berlin, da
Giebichenstein von französischen Truppen zuvor geplündert worden
war.
[Schließen]Mit besondrer Rührung werde ich ewig des
Geburtstags gedenken den wir so froh auf Ihrem
Sälchen feyerten; es war dies eigentlich der Tag
meiner Bekantschaft mit Ihnen. Meine durch all zu
große Schmerzen abgestumpften Sinne, hatten
bisdahin mich von jedem Versuch Ihnen näher
zukommen, von jedem Anspruch an Ihre Theilnahme die
bald so wohlthätig auf mich wirken sollte
abgehalten. Wie sehr stach dagegen der Geburtstag des folgenden
Jahres ab, den wir so traurig in Berlin
zubrachten; u
nd doch, was gäbe ich nicht jetzt für eine
frohe Stunde bey der Herz als ich da zwey
mit ihr war.
Sie glauben garnicht lieber Schleiermacher wie herzlich schlecht es
uns in dieser Hinsicht hier geht. Wir sind nun fast sieben
Monathe hier und haben noch nicht eine liebe Bekantschaft.
Das Äussere | 23 von Cassel
kann einen schon kurze Zeit bestechen und ich
werde die beyden ersten Monathe unsres Auffenthalts, die
wir ganz im Genuß der Natur und der Musick, der
lang entbehrten verlebten, nie vergessen. Doch je näher wir
mit dem Innern bekannt werden je fremder fühlen wir uns.
Ein so gänzlicher Mangel an Bildung jeder Art,
ist mir an keinem Orte vorgekommen und ich mache
hier zum ersten Mahl die Erfahrung daß selbst das Herz
verderbt wird in den Menschen[,] die besseren Empfindungen als
Theilnahme, Geistfreyheit, Diensteiffer, Sinn
für Kunst und Wissenschaften will ich garnicht
einmahl nennen, unbekannt bleiben; denn nie habe ich Neid
und Mistrauen und was alles dahin gehört, bey Menschen die
übrigens ganz harmlos scheinen, in so hohem
Grade gefunden als hier. – Bis vorm Jahr ist hier kein
Buchhändler gewesen der etwas andres als Gesang
Bücher zu verkauffen gehabt hätte. Nun sollte man
wenigstens glauben daß die Leute als einzigen Ersaz die
Pflichten der Religion eiffrig übten, aber keineswegs; ich
habe nie weniger Andacht in den Kirchen gefunden als hier
auch ist die ganz abscheuliche Gewohnheit daß alle Häuser die
zuvermiethen, | 23v Sachen die
zuverkauffen sind, unmittelbar nach der Predigt
von der Kanzel abges... werden. Ich gehe auch nicht mehr hin es ist
mir zuwiederlich auch haben wir nicht einen einzigen guten
Prediger. Meine Erwartungen von der Heiligkeit des
Chatolischen Gottesdienstes sind auch gewaltig getäuscht
worden o! mein lieber wie ist es möglich daß ein so
äusserliches Treiben das Herz erheben kann.
Ich danke Ihnen jetzt inniger als je für den
Seegen den Sie mir mit Ihren Friedrich Schleiermacher: „Predigten. Zweite
Sammlung“ (1808)
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Predigten
gegeben haben, die mich, nach einem Choral von den
reinen, sanften Stimmen meiner Schwestern gesungen, recht
das innerste Herz erfreuen und mich erquicken, wie
den Wanderer in der Wüste ein frischer Trunk erquickt.
Auch nicht eine gute Schule giebt es hier was mich für unsern
Carl Friedrich
Reichardt, um den sich Luise Reichardt längere Zeit
hindurch kümmerte.
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Fritz
der nun 6 Jahr alt ist recht besorgt macht. Er ist
bis jetzt unverdorben, liest mir fleißig vor, weiß eine
große Anzahl guter Lieder auswendig und fängt an
sehr hübsch zuschreiben so lange ist es so gegangen, nun wird
ernstlicher Unterricht immer nothwendiger und ich fürchte sehr für die
nächsten Jahre da die Mutter sich nie entschliessen wird
ihn von sich zugeben
und hier so garnicht der Ort, und
Vater nicht der Man ist ihn etwas strenger
und auffmerksamer zuerziehn als bis jetzt | 24 nöthig war. Auch
wird Vater ewig
Monathweise abwesend sein
so wie auch in diesem Augenblick er auf
dem Wege nach Prag
und
Wien ist, wo er den Auftrag hat
einige Sänger für die Italiänische Opera buffa, die man mit
der deutschen Oper zuverbinden denkt zu engagieren,
und wir werden ihn erst Weinachten
wiedersehn.
Sie sind sehr gut sich noch für mein Talent zu
interessieren was hier ganz in Vergessenheit
komt Das von Novalis für die Fortsetzung des „Heinrich
von Ofterdingen“ geschriebene Gedicht „Lied der Toten“ (in: „Schriften“,
Bd. 1, S. 350-355) mit der im Zitat erwähnten eröffnenden Zeile wurde
unter dem Titel „Er besucht den Klostergarten ...“ von Luise Reichardt
vertont.
[Schließen]ich bin, aber erst seit wenig Wochen, so
glücklich wieder etwas componieren zukönnen da hat denn
auch Novalis ’
„ Lobt doch unsre stillen
Feste
[“]
, endlich seine Melodie erhalten
und ich habe recht schmerzlich dabey gefühlt daß niemand
mehr da ist dem ich vorsingen kann.
Arnim schreibt mir daß er nach Berlin
zurückgeht und uns vorher hier besuchen wird,
dann denke ich Aufträge wegen der Lieder bey
Werkmeister mitzugeben, die mir der Mensch ohne
allen Grund verweigert zurück zugeben und dann
doch noch mit dem Druck nicht Ernst macht.
wohl die bei Breitkopf & Härtel 1809 in
Leipzig erschienene Liedersammlung „Goethe's Lieder, Oden, Balladen und
Romanzen“
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Mit den Götheschen Liedern die Vater schon im
frühsten Frühjahr dem Buchhändler übergeben scheint
es nicht besser zugehn.
Hier wird er auch kein Glück damit machen denn was Göthe ist
weiß hier kein Mensch. Unter | 24v
allen Frauen die ich hier kennengelernt ist nur eine die
den Göthe
gelesen hat, sie ist erst seit kurzem hier. Diese sagt
mir dafür aber auch jedesmahl daß wir zusammen sind daß sie
durchaus ganz unmusikalisch sey. Bey Ihrem Nahmen, den ich
anfangs aus lieber Gewohnheit öfter nannt, bin ich mehrmahl
gefragt worden „ist das ein guter Prediger?[“], oder „was ist das?[“] bis ich mich nach und nach
darin gefunden nichts mehr über die Lippen zubringen was
mir so heilig ist.
Vgl. Brief *2900.
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Ihres Wiedersehns mit Steffens habe ich mich in meiner Entfernung auch innigst gefreut, Steffens ist wirklich äusserst brav;
Gott möge ihn dafür belohnen und ihn einst wieder mit Ihnen vereinen. Seyen Sie tausend Mahl gegrüst mein bester Freund, noch vielen innigen Dank für Ihr Vertrauen, es kann an Ihrem Glück niemand innigern Antheil nehmen als ich. Bleiben Sie mir stets freundlich.
Entschuldigen Sie mein unleserliches Schreiben es ist diesen Abend sehr
schlecht mit den Materialien dazu bestellt aber es sollte
einmahl geschrieben sein. Noch viele Grüße an Anne (Nanny) Schleiermacher
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Nanny
und noch mehr von Sophie Reichardt
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Sophie
für Sie selbst.
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