Dresden den 14n Octobri 1808.
Ganz anders als ich es gehofft hatte ist es mir hier ergangen, zumahl was
die Lust & Tüchtigkeit zum Schreiben betrifft. Denn
statt in der Nacht zu sizen wie ich erwartete, die artige
Feder in der Hand, schreibe ich diese Zeilen als die ersten
beynahe, welche ich meiner grenzenlosen Trägheit abgewinnen
konnte & wenn ich mich recht befrage so erfahre ich, daß
nur harte Rede & Drohungen die mein Gewissen gegen mich
ausgestoßen eine solche Thathandlung von mir gewinnen
konnten. Vielfache Gründe kann ich für meine Vertheidigung
anführen, eine kleine Erzählung meines bisherigen Lebens
wird selbige aber aufs vortrefflichste practisch(?)
entwickeln.
Harscher kam im Januar 1808 nach Berlin, vgl. Varnhagen „Denkwürdigkeiten“,
Bd. I, S. 493.
[Schließen]
Sie erinnern sich noch der lezten Tage die wir in Berlin
miteinander verbrachten, die mir sehr
theuer & sehr unleidlich waren zu
gleichen Zeit.
Das erste weil mir recht deutlich die Überzeugung wurde daß
ich nicht wegziehn würde ohne eine kleine Stelle in Ihrem
Gedächtniß von mir erfüllt zu haben, lezteres weil eine
unendliche Dumpfheit mir eine Aussicht in lange gestörte
Tage eröffnete. Möge das erstere sich wie das leztere
bewähren. Denn von meinen Einsteigen in den Wagen bis jezt
erinnere ich mich keines Augenbliks in welchem ich recht
ordentlich Ich gewesen wäre. Die Reise war | 1v glücklich und langweilig. Im Anfang ward
andauernd bodenloser Sand, schneckenhaftes Fahren, &
dann noch obenein Regen, einmahl auch schlafen auf
schlechtem Streu ohne Abendbrod, & was
solche Geschichten mehr sind. Ich hatte den Schnupfen, die
Kurländer waren gutmüthig & bornirt,
Varnhagen irdisch & etwas
persönlich. In der Regel aber herrschte tiefer Friede unter uns
der selbst durch heftiges Schnarchen nicht gestört wurde,
welches etwa ein lies: Glücklicher
[Schließen]Glücklichen ausstieß dem der seelige Plaz im Grunde des Wagens zu Theil
stand. In
Dresden kamen wir Sontag Nachmittags an, bey ganz trübem
Wetter & leisem Regen. Ich fühlte mich weder krank noch
gesund, sondern in einer wunderlichen Art von
Helldunkel der innern Stimmung, das mir immer getreu
bleibt. lies: Der
[Schließen]Den Abend mußte zu Hause verbracht werden, so gut es
gieng, treffliches Essen machte das Leben erträglich, die
Schlafenszeit kam auch heran & am anderen
Morgen wurden gleich die Besichtigungen aller
Art begonnen.
Zuerst wurde die Gallerie
besehen & von dem Inspektor
Pechwell(?)
aufs unvernünftigste erklärt; wenn man aber
erwägt daß dieser Esel öfters des Jahres als Tage drinnen sind, ohne
nur die Gegenstände zu sehn (als Myops), horndumme Dinge
über die schönsten Bilder vorbringt & immer mit genau
denselben Worten so könnte man verrükt darüber werden, daß
er es nicht selbst seit langem geworden ist. Um so mehr, | 2 da er in Miene & Art einzeln
kurze Säze hinzuwerfen mit Friedrich August Wolf
[Schließen]
Wolf
allgemein anerkannte Ähnlichkeit besizt. Nachdem ich seiner erläuternden
Obhut entkommen war, ergözte ich mich, wie ein losgebundnes
junges Pferd, meine eignen Sprünge auf der herrlichen
Weide vorzunehmen. Warum mußte ich nun allein seyn, warum die süße Lust
der Mittheilung entbehren, ich Armer, der ich nicht
schreiben kann, sondern nur hören & ein
wenig reden? Warum haben Sie nicht bey mir seyn wollen auf
ein Bündniß in Kraft gedoppelten Sinnes & gedoppelter
Überlegung die großen Gewalten zu bestehen die
dem alleinen zu ungleichem Kampf drohten? Nun ist die Zeit
aus & ich muß ausgezischt werden, weil ich keine
ordentliche Beute aus dem Kreis trage. Auch Sie sollen büßen &
Strafe leiden, da Sie nun schlechte Sachen lesen müßen;
denn wären Sie bey mir gewesen so hätten Sie selbst gute
reden können. Wie soll ich Ihnen aber den ersten Eindruck
beschreiben, dem ich von den herrlichen Gemählden erlitten?
Im Anfange schlich ich scheu an ihnen vorbey wie ein Wild,
das sich aus dem Park in die Gemächer des Schloßes verirrt hat.
Sie sahen mir spöttisch nach & schauten mich an wo ich
gieng, als wollten korr. v. Hg. aus: Siesie
mir es absehen ob ich auch einer wäre von den Gaffern die in der
Dummheit des Herzens Schaarenweise vorbeyziehn. Bald | 2v blickten sie milder und
vertraulicher, meine beharrlichen Besuche & mein emsiges
Treiben mochten sie erweicht haben. Jezt, da ich sie
verlaßen soll, sind sie mit mir zur Sprache gekommen &
wäre nur mein Sinn geübt daß er den rechten Grund & die
wahre Deutung ihrer Laute verstünde, ich wäre so auf immer
von allem Wehe geborgen. Aufbewahren werde ich alles was
sie mir geklungen, bey dem heiligsten was ich besize, &
zu seiner Zeit wird auch hier das Dunkle sich in Licht
verkehren. Viel mehr weiß ich nicht zu sagen, denn wie
lange muß man geschaut haben, wie treu alles
einzeln aufgefaßt, wie fest es auf den ächten
leuchtenden Punkt bezogen haben, wie gesund & frisch
& Tugendhaft muß man bey alle diesem seyn um der
besondern Erscheinung die wahre Überschrift zu geben; wie
wenig von allen diesen Foderungen kann ich
erfüllen, & dennoch sollen Sie noch einige meiner
Gedanken hören, die ich nicht bey mir behalten mag, wenn
sie gleich weder neu noch reif sind. Dem Friedrich
Schlegel muß ich große Ehre geben, denn wie
er mir noch im Gedächtniß steht, so hatt er trefflich über
die Mahlerey gesprochen & vieles aus meinem Herzen.
Vgl. Friedrich Schlegel „Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die
Schweiz und einen Teil von Frankreich“, in: ders. (Hg.),
„Poetisches Taschenbuch für das Jahr 1806“, Berlin 1806, S. 257–390;
KFSA IV, S. 155-204.
[Schließen]Die
lezten Worte seines Reiseberichts aus dem Taschenbuch, daß die göttliche
Bedeutung der eigentliche Gegenstand dieser Kunst
sey, muß ich als den Text betrachten, den alles was
ich über sie denke & empfinde nun
erläutern & ausführen. Ich habe
gelernt | 3 mit ihm die Darstellung des Leibes,
unter seiner Potenz, in die Plastik verweisen, dem
höheren Mimischen aber, wo es auftritt eigentlich
als zweyte Bildnerin des Leibes, als
Schöpferinn der Miene, der Stellung, des
Gewandes, freyen Raum zu laßen. Der Gegensaz &
das Wesen beyder Künste zeigt sich hieraus deutlich, auch
ihre Folge in der Geschichte. Denn in einer Zeit da
der Leib als solcher in Blüthe stand & es sogar
die εὐφυια unter den Tugenden genannt
wurde da war es gehörig daß die Göttlichkeit aller
Naturrichtungen des Körpers, (oder des Menschen
unter der Naturform) durch die Kunst dargelegt
wurde; in der christlichen Zeit aber da die äußre
Schönheit ein zweytes geworden ist muß jene Kraft
hell hervorleuchten die jeden Leib zu einem Diener
der ewigen Gebote erheben kann. In dem Antliz aber, dem
freibeweglichen Spiegel jeder leisen
Empfindung, ist sie am deutlichsten
geoffenbart und von da in der kaum
festzuhaltenden Eigenthümlichkeit der Haltung &
in den Gewändern & Umgebungen, weil diese freyes
Erzeugniß jener Kraft sind. Darum muß
ich dem Raphael die Palme zu erkennen von allen
Mahlern, die ich gesehen, weil er die göttlichste Gesinnung ja
den eigentlich innersten Grund des Gemüthes mit
einer Klarheit aus den Mienen seiner Gestalten
herausleuchten läßt, daß der Beschauer sich wahren
muß vor der andringenden Lichtquelle, seiner | 3v Gestallt einige
Dunkelheit zu retten. lies: Diejenige
[Schließen]Diejeinige muß ich ganz abweisen die entweder von
irgend einer Seite her die menschliche
Figur(?) nun recht genau nachbilden,
wenn auch selbst veredeln wollen, oder dem Auge
durch die Mischung der Farben wohlgefällig werden.
In beyden Fällen der Form oder Farbe
und wären es beyde zugleich & für sich auftretten
wollen müßen sie verhöhnt werden, wenigstens aus
dem engern Kreise der vortrefflichsten
herausgewiesen. Wenn diese Sätze bestehen sollten
wie hart würde dann das Gericht über viele
bewunderte Meister hereinbrechen, wie viele
falsche Götter von den Altären herunter
geworfen werden müßen. Correggio mit seiner Farbenmagie
&
Tizian der so
wahr allen Dingen die Farbe absieht dürften sich
nur in den Vorhallen sehen lassen, im innern aber
jene Meister die nicht selbst einer Richtung der
Natur Gemeint ist wohl: sich nicht selbst einer
Richtung der Natur verschrieben haben.
[Schließen]verkauft, tief im Gefühl trugen daß hier das äußre
nicht an sich (als Naturidee) sondern als Ausdruck
des Innern (als geschichtliche idee) soll dargestellt werden. Die
Landschaftsmahlerey scheint hiebey übel
wegzukommen, auch habe ich in lies: den
[Schließen]der Darstellungen alles zu sehr nach einer Seite gewandt; denn korr. v. Hg. aus: Siesie
bildet den eigentlich plastischen Theil der
Mahlerey, den natürlichen. Die Alten die nur den
Leib als Wohnung der Seele individuell betrachteten &
denen die Gegend, das Clima, nur wie die pflanze,
dunkel | 4 & ohne
deutliches, bestimmtes Gefühl Gegenstand war,
haben in der Poesie selbst sie wenig aufgenommen
in den leiblichen Künsten sie meines Wißens nicht
berührt. So hat sich uns der Gesichtskreis nun erweitert daß wir die
Gegend mit dem Auge betrachten, wie jene den Leib,
d.h., daß die Natur, das Element vorherrscht, für
den Körper aber lies: haben
[Schließen]habe wir eine höhere Anschauung
gewonnen; dagegen an Kraft & Fülle die Anschauung der Alten
nun als Homer: Odyssee 4, 824. 835
[Schließen]
ειδωλον αμαυρον
unter uns umgeht. Daher ist die Darstellung des
Nakten untergeordnet in der Mahlerey, auch werden
die Gewänder nicht naß angelegt, denn die moderne
Seele verhüllt eben darum dem Leib immer, weil sie
weiß daß er sie nur im minimum ausdrücken kann & nur
als Haltung, Stellung als mimisch beseelt, durch
das Gewand hindurch, nicht in der eigenen Gewallt
der Erscheinung, braucht sie ihn als symbol. Die
Landschaft dagegen spricht als Sinn der Geschichte für die Natur aus
&
bildet mit der Plastick ein Ganzes. Wie diese in
allgemeinen Gestalten die Geschlechter &
Gattungen der Menschen aussprach, so zeigt jene noch
allgemeiner vielleicht die Climate, Erdstriche,
Jahres ja Tageszeiten, kurz sie stellt an den
Gegenständen die Art dar wie sie in dem menschlichen
Gemüthe leben, & erst seit die
Menschen reisen, seit korr. v. Hg. aus: sichsie
sich aus den Wurzeln gerissen haben | 4v gelingt ihnen diese Art Darstellung; auch
haben selten die Meister ihre Heymath, sondern
meist fremde Gegenden dargestellt.
Hieraus nun dürfte sich ein Saz ergeben der von Schlegel nicht
würde gebilligt werden, daß nämlich diese beyden Zweige der Mahlerey
in ihren größten & individuellsten
Erscheinungen nothwendig getrennt seyn müßen &
wo sie sich beyde finden, eins dem andern untergeordnet
ist. (Unsre Kunst scheint sich hiebey an die Musik
anzuschließen; welche einen Gegensaz aufzeigt, der
wenn auch scheinbar verschieden, doch aus einem
princip hervorgeht mit ihr) Daß ferner, diese Abtheilung gesezt, in
jeder auf ganz verschiedenen Eintheilungsgründen
die specifischen Differenzen
beruhen.
Doch wohin reißt mich der Wahnsinn? Um alles was
ich gesagt zu begründen müßte ich Jahre lang schauen
& viele Bogen beschreiben; Sie aber,
lieber, theurer Freund, werden mir verzeihen daß ich so
unverhohlen Ihnen die speculativen Hirngespinnste darlege, die
mein ergriffnes Gefühl aus der bewegten Fluth meines
Inneren heraufgetaucht hat. Sie müßen sogar für
jezt über die einzelnen Mahle mir noch ein wenig zuhören
& gefaßt seyn darauf, daß ich noch oft von anderen
Gegenden her aus der Erinnerung mein Herz über diese
herrlichen Dinge gegen Sie ausschütte. Es handelt sich um die Bilder „Sixtinische
Madonna“ von Raffael (1512/13), Öl auf Leinwand, 256 × 196 cm und um das
Mittelbild des Marienaltars von Albrecht Dürer (ca. 1496), 107 × 96,5 cm
beide in der Gemäldegalerie Alte Meister Dresden.
[Schließen]
Steigen nun nicht vor Ihrem | 5
begeisterten Auge die beyden Madonnen auf? die
Raphaelsche & die deutsche
Hätte ich Engelszungen, ich würde nicht
müde werden sie zu preisen & die Männer zu
verherrlichen die es jedem Menschen möglich gemacht haben
einen solchen Himmel von Menschenbildung zu
sehen, zu fühlen, ganz in sich einzusaugen, auf ewig am
innersten ewigen ersten Leben Theil nehmen zu
lassen.
Wie lebendig ist mir die Rede
des Erlösers geworden, Mk 10,14
[Schließen]
„Lasset die Kindlein zu mir
kommen“
, als ich die Raphaelschen Kinder sah.
Der
kleine Jesus blickt tief ernst vor sich hinaus in die
Welt, das Haupt an die göttliche Mutter gelehnt. Was dem
gewöhnlichen Mensch sich verdunkelt wenn er in die Welt
der Erscheinung tritt, die Idee, diese lebt in ihm in
voller Klarheit, mit weit geöffnetem unendlich tiefem Auge
sieht er die Schatten, deren wunderlich Gewirre seinen
heiligen Ernst nicht stört, als wären es Traumgestalten,
Nachtwandler, die nur Er zum rechten Leben im Licht
erheben könne. Die hohe Mutter trägt ihn, eine süße Last, ruhig
sinnend sieht sie vor sich her, ohne etwas anzubliken das
Urbild aller göttlichsten Reinheit &
Lieblichkeit weiß sie nicht darum, alles ist in die stille
Herrlichkeit des Seyns aufgelöst, jeder Gedanke in dem seligen
Gefühl des Kindes untergegangen. Das hohe
ruhige Auge durchprüfft jeden Busen, & die
leiseste unreine Regung muss von ihr erbeben.
Die deutsche Mutter ist milder sanfter,
nicht so schonungslos strenge | 5v gegen den
Beschauer. Das fest geschloßne Auge verleiht
Muth seine Leiden zu klagen, sich in Liebe &
Zutrauen der süßen Gestalt zu nähern. Wie lieblich wie
deutsch ist das zarte Oval des Gesichts, die leise Röthe,
wie schön die gelben Loken die voll über die Schultern
hinabsinken. Aber still, still! daß nicht die heiligen
Wesen den Frevler mit ewiger Pein strafen. Diese beyden Gemählde betrachte ich als die
Hausgötter der Sammlung & versäum es nie nach
meinem Eintritt vor ihnen meinen Gottesdienst zu vollbringen;
ich bin ja ordentlich katholisch geworden. Einige Kopien
nach
Raphael
haben mich genöthigt den unabänderlichen Entschluß zu
faßen ihre Originale zu sehen & sollte ich
an das Ende der Welt reisen müßen; denn unmöglich wäre es
mir den Gedanken auszuhalten daß so herrliche
Offenbarungen des Geistes nicht auch an mir
ihre himmlische Kraft beweisen sollten. Ein
überaus schönes Bild aus seiner Schule ist noch hier zu
sehen; von
Ramenghi Bartolomeo (genannt il Bagnacavallo),
wahrscheinlich das Bild „
Maria vier Heiligen erscheinend
“ , vgl. Karl Woermann: „
Katalog der königlichen Gemäldegalerie Dresden
“, 1887, S. 30.
[Schließen]
Bagnacavallo
. Gemeint sind die zeitweise Gianfrancesco Penni
zugeschriebenen Bilder Dosso Dossis: „
Der Heilige Georg
“ und „
Der Erzengel Michael
“, vgl. Karl Woermann: „ Katalog
der königlichen Gemäldegalerie Dresden “, 1887, S. 32
.
[Schließen]
Zwey andre(?) treffliche von Penni
.
Von diesen nächstens, wie überhaupt von noch
mehreren anderen Bildern & Dingen; denn ich merke daß
bald muß geendet werden, damit der Brief nicht zu einem
Buch anwachse & ich habe doch noch allerley zu erzählen von mir
selbst. Ich muß mich bey Ihnen anklagen darüber, daß so
viel herrliche
Kunstwerke die ich schaue | 6 die
ich recht mit Lust in mich einsauge, mich gar nicht
merklich verbeßern. Eine große Gleichgültigkeit gegen das
Leben, ja oft eine ordentliche Feigherzigkeit
& Menschenfurcht plagen mich anhaltend
& die Zeit, die ich nicht bey Kunstwerken zubringe, sehe ich
mir kaum ähnlich. Ein Glük ist es, daß mir noch der Ausweg
offen steht alles auf den Körper zu schieben, & mir
daher eine vortreffliche Diät vorzuschreiben, wodurch ich
wenigstens um Eine Freude reicher werde. Beßer geht es
denn auch mit dem Leichnam, obwohl ich viel an
Rheumatischen Schmerzen gelitten, auch am
rechten Bein eine neue Drüse bekommen habe. Dagegen hat
mir schon die geringe Anäherung zum Süden, die man hier
spührt manchen kleinen Schauer erregt, ich fühle, wie
allmählich das Reich der Willkühr naht, & wie immer mehr & mehr
ich mit meiner ächt alt-
hallischen Art den Dingen mit sittlicher Art &
Kunst auf den Grund zu gehen, als ein lächerlicher Fremder
oder als ausgeartetes Landskind erscheinen werde. Von den
Koryphäen zwar der hiesigen neu
wißenden(?) Welt habe ich nichts gesehen &
wenig gehört, doch aber genug um der alten Meinung über
selbige getreu zu verbleiben.
Varnhagen hat sie gesucht, aber ohne sie zu finden.
Einen Bekannten & Genoßen von ihnen habe ich
meinerseits kennen gelernt, den Mahler
Hartmann einen Schwaben & wundersame Patron der noch
vollkommen schwäbisch spricht & alles kennt
von der Zeder auf
Libanon
bis zum
(Hyssopus officinalis) Eisenkraut, Essigkraut
oder Josefskraut
[Schließen]Ysop der an der Wand wächst. Dabey ist er lebendig, liebenswürdig, eitel
obwohl ältlich & erzählt stets Geschichtchen meist von
seinen Kirchen.
Er kennt die ganze Welt des Steffens
, die Herz
& Gott weiß was alles. | 6v
Ist ein intimus von dem hiesigen Naturphilosophen
Schubert , dem Müller
,
Kleist
. Mit ersterm wollte er mich durchaus bekannt machen, als mit
einem kindlichen in großer Unbewußtheit tief wißenden. Ich
aber verbat alles baldiges Reisen vorschüzend, denn Gott
behüte mich vor jungen philosophischen Autoren. Bey dem Hartmann selbst bin ich gewesen um doch zu
sehn was jezunden die Malerey heraus bringt, denn er hat den
Ruf einer der ersten Künstler zu seyn. Nach meiner
geringen Einsicht will aber was er macht nicht viel sagen,
ob ich gleich nichts beßres neues gesehen habe. Es ist in
der Sache kein rechter Humor, keine
Unergründlichkeit etc. etc. denn zu einem
gehörig motivierten Urtheil hätte ich die Bilder länger
sehn müssen als meine Faulheit mir gestattete. Christian Ferdinand Hartmann: “Die drei Marien am Grabe Christi“ (1807), Anhaltische
Gemäldegalerie Dessau; ein Kupferstich nach dem Bild erschien im ersten Heft der
Zeitschrift „Phöbus“. Das erste genannte Bild konnte nicht identifiziert werden, ev. wurde es 1812 an die Kirche in Werdau als Altarbild
verkauft, das den auferstandenen Christus in Begegnung mit Maria
Magdalena zeigt.
[Schließen]Eins war eine Magdalene die bey der Nachtzeit
Christus die Füße salbt, das andre die 3. Marien das Grab
besuchend; ein Stük was hier ausgestellt & viel
besprochen war.
Es handelt sich offenbar um
eine Kopie des Originals, das im Museo del Prado in Madrid hängt. Das
bereits oben erwähnte Mittelstück des Dresdner Marienaltars von Dürer wurde
zwischenzeitlich nicht als Dürer anerkannt, vgl. Karl Woermann: „
Katalog der königlichen Gemäldegalerie Dresden
“, 1887, S. 199.
[Schließen]Einen Schaz habe ich dafür bey ihm gesehen, einen Albert
Dürer;
Adam & Eva vor
dem Baum der Erkenntniß, wie Eva eben den
Apfel von der Schlange wegen nimmt. Fleißig daß
einem die Augen
übergehen
& doch ganz edel & großherzig. Ein kräftiger treuer
Adam, festes derbes Fleisch, die Eva weniger
schön. Der Baum wundervoll ausgeführt, jedes
Blättchen zart & fein zu schauen, alles mit gar lieblichen &
wohlthuenden Farben; links in dem
Hintergrund ein köstliches
Landschäftchen.
(Der kleine Altar in der Gallerien soll dagegen nicht von Dürer
seyn; bleibt aber doch ein köstliches
Bild.)
So paarte sich das Gute & Schlechte, daß man
ohne das eine das andre nicht erlangt; schlechte
Gemälde muß man den Guten zu Lieb mit sehen;
glücklich daß das innre Auge nicht | 7 an das äußre gefeßelt ist. – Kurz muß ich Ihnen noch die
übrigen Merkwürdigkeiten, die ich gesehen, herzählen;
damit korr. v. Hg. aus: sieSie
erwägen können, wieviel neuen Stoff ich eingespeichert
habe auf den kommenden Winter. Erst die Antiken, leider
sehr cursorisch &nur so daß ich gewißen
Schmerz empfand nicht öfter sehn zu können. Denn sehr
irrig ist es zu glauben dem ungeübten sage der Gyps mehr
zu als der Marmor. Gar die Herrlichkeit der gänzlich ins
unendliche gehenden Organisation der Oberfläche in dem
Marmorbilde wird in Gyps nur sehr allgemein &
ungründlich wiedergegeben & man muß sich mit
den großen Umrißen des Ganzen begnügen, statt in jedem
kleinsten Theilchen tausendfaches Leben zu fühlen.
Die Dresdner Gemäldegalerie kaufte 1783 aus dem
Nachlass des Malers Anton Raphael Mengs 833 Gipsabgüsse meist antiker
Skulpturen und erweiterte diese stetig.
[Schließen]Dieses kann ich mit Grund der Wahrheit versichern,
denn auch die Abgüße des Mengs habe ich gesehen
& würde nie fest versprechen nicht mit den
Kopien vorlieb zu nehmen, sondern so bald möglich
zu den Originalen zu eilen. Über [...](?) jezt nichts, vielleicht auch später
nicht; denn halbgesehenes soll der Mund nicht kund thun.
Soviel nur daß ich den In den 1831–1881 gedruckten Katalogen der
Dresdner (Mengs'schen) Abgusssammlung ist zwar die kolossale Juno
genannt, also die in der Goethezeit besonders von
Goethe
,
Schiller
,
Humboldt
oder
Winckelmann
(fälschlich) als Inbegriff griechischer Idealität bewunderte
Juno Ludovisi, nicht aber eine Statue des Ajax (Aias), von dem ohnehin
keine herausragende antike Statue bekannt ist (der Torso Belvedere, von
Winckelmann als Herkules angesehen, wird erst neuerlich
[seit 1993] als Ajax gedeutet). In der Dresdner Sammlung wurde offenbar
um 1810 eine heute nicht mehr identifizierbare Statue als Ajax
bezeichnet.
[Schließen] Ajax & die koloßale Juno mit lebhafter Erinnerung an Sie neben
Ihrem Bilde meiner Phantasie anbefohlen habe.
Zum dritten habe ich noch die Rüstkammer besucht,
mehr dem Varnhagen zu gefallen, der von Fouqué getrieben
war, als mir;
& sehr erbaut finde ich mich nicht. Es ist
alles zu jung darinn um recht alt zu seyn; keine
Harnische älter als 300. Jahr, was für einen
Harnisch ein bagatell ist; das Japanische &
Chinesische Zeugs dagegen ist entsezlich dumm angebracht
daneben. | 7v
Italienische Oper habe ich auch gehört. Unergründlich &
unaussprechlicher Unsinn. Die Menschen wollen
mit Teufelsgewalt zu Violinen werden; wäre ich
der liebe Herrgott so sollte es ihnen darin nicht fehlen, wäre
ich der König so ließe ich sie vorläufig auf andre Art
streichen; was sie auch durch die Albernheit ihrer Mimik
allein reichlich verdienten, denn nicht eine Person auf
dem ganzen Theater rührt ein einziges Glied wie sichs
schickt. Die Musik war flach, dumm, & ein gemisch von
Concertsäzen aus lies: Violinensonaten
[Schließen]Violinsoanten. Gemeint ist der damals berühmte Dresdner Sänger
(Kastrat) Francesco Ceccarelli, die genaue Schreibweise des Namens im
Text lässt sich nicht definitiv bestimmen.
[Schließen]
Der Castrat
Sanarotti
(?) dagegen ist ein herrliches
Instrument & singt einfach & schön,
Schade daß die Kirchenmusik eine Auswahl aus dem
Schlechtesten ist, Haße das beste sonst
Naumann(?)
, Sydelmann
& was noch für Männer des Jammers. –
Varnhagen ist ein 9 Tagen abwesend
gewesen, eine Excursion nach Leipzig
vollführend,
wo sich die Levi
die Meße
über aufgehalten.
Unterdeßen bestand mein Umgang aus Es handelt sich wahrscheinlich um Friedrich
Meier, der mit Heinrich von Kleist bekannt war
und auch die Brüder Gerlach portraitierte („Die vier Brüder
von Gerlach“ ca. 1810).
[Schließen]dem jungen Maler Mayer
&
Varnhagens „Denkwürdigkeiten“ nach zu
urteilen, waren die beiden, auch mit Harscher bekannten Brüder Gerlach
Leopold und Wilhelm von Gerlach (vgl.
z.B. „
Denkwürdigkeiten
“, Bd. I, S. 513).
[Schließen]den beyden Gerlachs
die vor 8. Tagen nach Deßau gegangen.
Der junge hat sich in lies: Göttingen
[Schließen]
Göttlingen
ziemlich fest in die Geschicklichkeit gesezt
sehr unbefangen &
unangefochten viel mehr zu sagen als er weiß. Sonst ist er
frisch, brav, keck, verträgt sehr vortrefflich
Wiederspruch & disputirt für sein Leben gerne, ohne doch an
den Materien halb soviel Intereße zu nehmen als an der
Form. Nun muß
aber geendet werden & zwar plözlich. Viel
spahre ich auf, besonders Elegische Sachen über Berlin
. Schreiben Sie um Gotteswillen nach
Tübingen
poste restante ordre an mich
blos, & melden Sie was man sagt, & was die Gemeint sind wohl
Anne (Nanny) Schleiermacher
und
Henriette Herz
. Harscher hatte 1813 ein Verhältnis mit Anne Schleiermacher,
vgl. Brief Schleiermachers an seine Frau
Henriette
vom 3.6.1813, Friedrich Schleiermacher: „
Schleiermacher als Mensch. Bd. 2
“ (1923), S. 183.
[Schließen]himlischen Frauen machen. Entschuldigen Sie, vertreten Sie mich; vor
allem aber glauben Sie daß ich sehnlich wünsche, wenn auch fern,
Ihnen immer näher & näher zu kommen.
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