K den 4. April 1808.

 Vgl. Brief 2672. [Schließen]Gestern erhielt ich deinen Brief vom 29. März und da meine Zeit immer kostbarer wird – wie jedem Sterbenden – so will ich die Beantwortung desselben auch nicht Einen Posttag aufschieben. Meine Empfindungen bei der mir diesmal bevorstehenden Abreise, kannst Du Dir leicht vorstellen. Ich erwarte solche jedoch um so ungeduldiger, als ich hier doch eigentlich keinen Augenblick mehr sicher bin, ob ich nicht, auf allerhöchsten Befehl, hier aufgehoben, und als ein – freilich sehr geringer Ersaz für die Dänische Flotte – an den Feind ausgeliefert werde. Dies ist kein bloßer Scherz, vielmehr haben Leute, die gar keinen Spaß verstehen, mir davon als von einer Möglichkeit gesprochen, und man hat sich überhaupt einige Mühe gegeben, mir die Hasenpocken der Angst einzuimpfen, seitdem ein Französischer Handelsaufseher hier | 87v angelangt ist. Darauf lasse ich mich jedoch nicht ein, da ich,  Anspielung auf Kants Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ (1784), in der Kant die unaufgeklärten Menschen mit „Hausvieh“ vergleicht (OA: „Berlinische Monatsschrift“, Bd. 4, Zwölftes Stück, S. 481–494, hier 482, vgl. „Akademieausgabe“ (AA) Bd. VIII, S. 3-42, hier: 35).  [Schließen] wie der selige Kant , Bedenken trage, die edlere Menschennatur mit dem verächtlichsten Vieh in eine so vertrauliche Berührung zu bringen.  wohl Anspielung auf Mt 6,24 [Schließen] „Jeder steht und fällt seinem Herrn“, heißt es in der Schrift, und   Mt 26,34; Mt 26,69-75  [Schließen] ich werde den Meinigen nicht, wie Petrus, verleugnen, weder vor oder nach dem allgemeinen Hahnenkrähen . Ob alle seine Jünger eben so zuverlässig sein werden, ist eine andere Frage, und diese Besorgnis raubt mir manchmal den Schlaf. Ich weiß, daß   Mt 26,15  [Schließen] der Kaiser wenigstens die 30 Silberlinge nicht schont, und  Mt 27,5 [Schließen] die Judas unsrer Tage haben selten ein so zartes Gewissen, daß sie sich freiwillig erhängen, wenn sie sehen, daß es mit ihrem Bubenstück Ernst wird.

Die Lage in Schweden muß höchst merkwürdig sein, und mein Loos ist es nun Einmal, mich durch sehr gespannte Lebensverhältnisse durchzuwinden.  Vgl. Brief 2661, 57 – 60. [Schließen]Zu diesem neuen Kampf habe ich mich nun ganz | 88 besonders durch das Lesen der Gemeinnachrichten gestärkt und gekräftigt. Vorzüglich durch die Lebensläufe heimgegangener Geschwister. Zembschens war gewissermassen doch an Erfahrungen inhaltloser, als ich ihn erwartete; aber der Mann war ein wirklicher Held des Glaubens, und seine ganze Jugend hindurch ein Dulder, wie wenig Heilige. Eine edle Selbstverläugnung, die Palmen verdient. Aber mit den Zweifeln seiner Vernunft scheint er früh auf dem Reinen gewesen zu sein. Noch anziehender war für mich der eigene Lebenslauf der Gräfin Einsiedel.  Wohl Anspielung auf die im 6. Buch von Johann Wolfgang von Goethes „ Wilhelm Meisters Lehrjahre “ (1795-1796) enthaltenen „Die Bekenntnisse einer schönen Seele“, eine pietistische Innenschau der Bildungsgeschichte einer Adligen, oder aber den Roman von Friederike Helene Unger: „Bekenntnisse einer schönen Seele “ (1806).  [Schließen]Ein wahres, kein gedichtetes, Seitenstück zu den „Bekenntnissen einer schönen Seele.“ Überhaupt sind alle diese kunstlosen Selbstschilderungen für den Seelenforscher unendlich lehrreicher als die Meisten Romane, und zwar die der ungebildetsten Personen oft die anziehendsten. Man sage, was man wolle, diese Menschen sind keine Heuchler; um die von ihnen erkannte Wahrheit, ist es ihnen Ernst, wie Wenigen unter uns um die filosofische. –  Sachanmerkung:

Mein ... er nicht.] 
Friedrich Schleiermacher: „ Predigten. Erste Sammlung“ (1801) und Schleiermachers Platon-Übersetzung (Band 2,2) von 1807, vgl. Brief 2672, 66 – 75.

Mein ... Barbyschen Professors.] Vgl. Brief 2672, 65 – 67.
 [Schließen]
Mein hiesiger Cunow ist ein älterer Bruder des Barbyschen Professors. Dieser ist jezt Mitglied der Unitäts Ältesten Conferenz – Deinen Predigten läßt der Meinige volle Gerechtigkeit wiederfahren, Deinen Platon kannte er nicht.
| 88v

 Friedrich Schleiermacher: „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn“ (1808), vgl. Brief 2672, 48 f.. [Schließen] Mit nächster Post erwarte ich Deine Schrift über die Hochschulen . Mich wundert daß Stein nichts darüber gesagt hat. Er liest sonst rasch und gut. Als zu eingefleischter Engländer ist er nicht ganz ohne Vorurtheile; Alles soll einen gewissen Staats-Zuschnitt bekommen; selbst Religion und Wissenschaftspflege. Darüber haben wir bisweilen heftig gestritten. Auffallend ist es mir, daß ihm jezt die Fichtischen Vorlesungen viel Theilnahme einflössen sollen. Die Gedruckten nehmlich denn ein  Jak 1,22 f. [Schließen] „Hörer des Worts“ ist er wohl nicht. – Was ich drum gäbe, Dich nur auf ein paar Tage zu sprechen, kann ich nicht beschreiben. Das höhre Thun und Treiben in der Welt des Denkens ist mir seit ein paar Jahren doch gewiß fremd geworden. Und doch glaube ich nicht stille zu stehen, sondern nur fest. Ich glaube nicht, daß Du mit mir unzufrieden sein würdest.

Ein an meinen Freund Bernstorff nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten überreichtes Vermächtnis wird Dir Spalding mittheilen. Ich denke, mein dortiges Glaubensbekentnis – etwa die reinschwedischen Artikel abgerechnet – wird auch das Eurige sein.

Einen Brief könnte ich wahrscheinlich noch von Dir hier erhalten.

Der Deinige Br.

Zitierhinweis

2678: Von Carl Gustav von Brinckmann. Königsberg, Montag, 4. 4. 1808 , ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0006507 (Stand: 26.7.2022)

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