Heidelberg den 9. Febr. 8.

Schon lange habe ich Ihnen wieder schreiben wollen, wenn aus keiner andern Ursache, wenigstens um Ihnen Ihren von Marheineke mir zugekommenen Gruß wieder zu vergelten und die ich von Ihnen durch andere noch erhalten habe, und ich will es ietzt um so weniger mehr anstehen lassen, da ich einen nähern Anlaß habe.  Schleiermacher las im Vorfeld der Universitätsgründung im Wintersemester 1807/08 über die theologische Encyklopädie (vgl. A. Arndt und W. Virmond: „ Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) “ (1992), S. 303) und begann laut Eintrag in seinem Tageskalender am 6.1.1808 mit der Vorlesung. [Schließen] So viel ich von Berlin gehört habe, wollten Sie diesen Winter theologische Vorlesungen halten; haben Sie dieses wirklich gethan, oder wieder aufgegeben? Wie sehr wünschte ich Ihre Geschichte der Griechischen Philosophie gehört zu haben, von welcher mir von einem Ihrer Zuhörer mit großem Enthusiasmus geschrieben worden ist, nehmlich von  vielleicht Friedrich Conrad Leopold Schneider [Schließen] Dr. Schneider , welchen Sie wohl auch kennen werden.  August Boeckh las im WS 1808/09 Geschichte der griechischen Philosophie, erst im SS 1809 über Platon, vgl. Max Hoffmann: „August Boeckh“ (1901), S. 467.  [Schließen] Ich habe mich damit seit einiger Zeit hier auch beschäftigt, und sie hat mich wie sonst so auch ietzt wieder so sehr angezogen daß ich künftigen Sommer darüber lesen wollte; leider aber habe ichs denn wieder auf den folgenden Winter aufgeschoben, um sie dann zugleich mit dem Platon zu lesen, welchen ich alle Winter wohl lesen werde, so lange wir hier in ungestörter Ruhe bleiben. Ihr Timotheus scheint aller Ecken gewaltigen Spectakel zu machen;  Friedrich Schleiermacher: „Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos“ (1807), vgl. KGA I/5, S. 153-242. Die Rezension „Über die höhere oder divinatorische Kritik des Neuen Testamentes“ in der „Neue[n] Leipziger Literaturzeitung“ (Bd. 1, 5. Stück (11.1.1808), Sp. 65-74ff.) war anonym erschienen und konzentrierte sich nicht nur auf Schleiermachers Abhandlung, die gelobt wurde, deren Ergebnisse aber zugleich als nicht überzeugend angesehen wurden. [Schließen]der Leipziger Recensent hat's am rechten Fleck angegriffen, wie diese Zeitung zu thun pflegt Hier wissen eigentlich die wenigsten Leute, die sich darum kümmern, was sie daraus machen sollen; und ich weiß auch nicht ob einer derselben darüber urtheilen kann,  Die umfangreiche Rezension von Wilhelm Martin Leberecht de Wette verteilt auf zwei Nummern erschien in JALZ, Bd. IV, Nr. 155-156 (2.-3. Nov. 1807), Sp. 217-232. Zur Rezeptionsgeschichte des Schleiermacherschen „Timotheos“ vgl. die „Historische Einleitung“, in: KGA I/5, S. CV-CXXVII.  [Schließen]den einzigen De Wette ausgenommen, der Sie in der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung censirt hat . Ich habe an diesem Factum wieder gesehen, wie wenig sich auch achtbare Leute | 5v vom alten Glauben und Vorurtheilen losreissen können und wie es den Meisten mehr darum zu thun ist, ein schönes Gewebe vor sich zu haben und selbst Neues daraus zu weben, als auf den wahren Grund zu gehen. Weil sich nun das Alte nicht so leicht aufgeben läßt und Einige meinen das Heilige sich entrissen zu sehen, so werden Sie freylich auch viele Gegner unter den Theologen haben; bey den Consistorien aber werden Sie sich gewiß übel angeschrieben haben.

 Philipp August Boeckh: „Ueber die Bildung der Weltseele im Timaeos des Platon“, Bd. 3 (1808), S. 1-89. Mit der Dissertation „Specimen Editionis Timaei Platonis Dialogi“ (1807) wurde er habilitiert. [Schließen] Meine Abhandlung in den Studien und meine Dissertation über den Timäus , die ich Ihnen durch Buchhändlergelegenheit geschickt habe, werden Sie hoffentlich erhalten haben, und ich bin begierig, wie Sie damit zufrieden sind. Ich muß Ihnen hier aber noch eine Beichte thun, und ein Geständniß, wie ich mich an Ihnen versündigt habe.  Die ersten beiden Bände von Schleiermachers Platonübersetzung erschienen 1804 (Bd. 1,1) und 1805 (Bd. 1,2). August Boeckh, der in Halle bei Schleiermacher hörte, verfasste seine Rezension zu den ersten beiden Platon-Bänden „Platons Werke von Fr. Schleiermacher“, in: „Heidelbergische Jahrbücher der Literatur“, 1. Jg., H. 1 (1808), S. 81-121. Im selben Heft erschien Creuzers „Philologie und Mythologie, in ihrem Stufengang und gegenseitigen Verhalten“ (S. 3-24) sowie seine „Rezension zu Johann Jakob Wagners „Ideen zu einer allgemeinen Mythologie der alten Welt“ (S. 25-61); Friedrich Schlegel rezensierte die „Sammlung deutscher Volkslieder“ von Büsching und Hagen (ebenda H. 1, S. 134-142; vgl. Schlegel KFSA IIII, S. 103-108), seine Rezension von Goethes „Werke“ Bd. 1-4 erschien im 2. Heft (ebenda H. 2, S. 145-184; vgl. Schlegel, KFSA III, S. 109-144). [Schließen] Die Redaction der hiesigen Jahrbücher hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich Ihren Platon zu recensiren versprochen habe; so habe ich mich in mein Schicksal ergeben, und bin über die 2 ersten Bände gekommen; wie ich das nun angefangen habe, werden Sie aus dem nächstens erscheinenden Hefte sehen. Sie können freylich die Parthie ungleich nennen, und mich gar anmaßend; das habe ich auch vorgeschützt; allein die Antwort war, die größte Anmaßung seye es doch, in der Welt zu seyn: und wer das einmahl wäre, der müße dann auch für einen Mann einstehen. Das Schlimmste, was einem geschehen kann, ist doch das schlechte Lob; | 6 daß ich mich aber damit versündigt, glaube ich doch nicht; mit dem Tadel mag es seyn, wie es will, wenn nur das Lob richtig ist. Daß der Schüler den Lehrer recensirt, hat mir auch nicht gefallen wollen: aber in unserer aufgeklärten Zeit sind wir darüber doch weg, und so hatte ich weiter keine Bedenklichkeit mehr. Was Sie aber darüber meinen, bitte ich Sie doch mir zu schreiben, wenn Sie diese ziemlich große Recension gelesen haben. Dies erste Heft der philologisch-belletristischen Abtheilung enthält übrigens außer andern Sachen noch eine sehr geistreiche Abhandlung über die Mythologie, von Creuzer , nebst einer Recension der Wagnerschen Mythologie, und zwey herrliche Recensionen von Friedrich Schlegel, die eine von Göthes Werken.

Heindorf und Buttmann lassen gar nichts von sich hören. Grüßen Sie sie herzlich, und sagen Sie ihnen doch, daß ich sie gewiß ungeschoren lassen würde, weil sie doch nichts von mir wissen wollten. Ich kenne sie zwar schon, und weiß wie die Sachen gehen.  Boeckh spielt hier auf F. A. Wolfs umfangreiche einleitende Abhandlung „Darstellung der Alterthums-Wissenschaft“ im ersten Band des „Museum der Alterthums-Wissenschaft“ an (Bd. 1, 1807, S. 1--145), in der Wolf das Ziel formuliert, „die höchsten Gesichtspunkte der alterthümlichen Philologie möglichst genau zu erfassen“ (ebenda S. 5).  [Schließen] Das Museum der Alterthums-Wissenschaft hat ia gewaltig debutirt. Aber, gestehen Sie doch, ist die Philologie darin nicht gar zu äußerlich genommen? Ich habe mich nach und nach, schon in Berlin und besonders seit meinem hiesigen Aufenthalt mit einer etwas andren Ansicht vertraut gemacht, und so scheint mir das Wesen der Philologie doch viel tiefer zu liegen, als dort angegeben ist. Dort ist sie nur hoch und breit gestellt, tief gemacht aber gar nicht. Sehr tief gedacht ist doch ienes Ganze nicht;  Boeckh bezieht sich hiermit auf eine ausufernde Fußnote im Wolfschen Text (S. 126-129, S. 133-137), vgl. dazu Jürgen Trabant: „ Humboldt, eine Fußnote? Wilhelm von Humboldt als Gründergestalt der mordernen Altertumswissenschaft “ (2009). Für Boeckh löst sich das Rätsel mit Schleiermachers Antwort, die auf Wilhelm von Humboldt als den Ungenannten verweist, vgl. Brief 2655, 149 f..  [Schließen] am meisten haben mich die Briefe des Ungenannten angezogen: wer wohl der ist? – Interessant war | 6v es mir, auch einmahl die toll gewordene Philologie zu sehen, wie sich diese wohl geberden möchte;  Johann Arnold Kanne: „Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie“ (1808), mit einem Vorwort von Jean Paul  [Schließen] und so was Tolles ist doch wohl kaum ie erschienen, wie Kannes Urgeschichts-Urkunden, die Jean Paul zu Tage gefördert hat. Darin sind doch bey weitem alle Tollheiten der Neuplatoniker übertroffen worden; das Buch ist auch uns Platonikern wichtig; es wirft doch ein sehr helles Licht auf den Platonischen Cratylos.

Hier ist immer noch die theologische Professur des KirchenRath Ewald unbesetzt, und erst vorgestern ist endlich hierher eine Anfrage an die theologische Facultät gelangt, wie es damit zu halten seye. Diese, nur aus den zwey Männern, Daub und Schwarz bestehend, hat sich dabey sehr unpolitisch und fast unredlich benommen, indem sie Nichtbesetzung, welche die Regierung freylich auch wünscht, zu wünschen schien. Durch einen eigenen Zufall ist auch Creuzer darin verwickelt worden, und dieser hat in einem Schreiben an den Commissarius der Regierung, an den Geheim en Rath Klüber hier vorgeschlagen, man möchte doch Sie berufen. Ob Ihnen das Recht wäre und ob sich die Regierung überhaupt dazu verstehen wird, weiß ich nicht; uns allen aber würde es unendliche Freude seyn; wenn sowohl Letzteres als Ersteres der Fall wäre. Die Regierung ist freylich nicht im Mindesten liberal und steckt voll theologischer Vorurtheile, wie der  Karl Friedrich von Baden  [Schließen] Großherzog selbst; sollte es Ihnen aber um einen akademischen Katheder wieder zu thun seyn und sollten Sie ihn hier wünschen, so würde die Regierung wohl vielleicht zu bestimmen seyn, wenn Sie es, nach der Art, wie es hier allgemeine Sitte ist, selbst Hand ans Werk zu legen nicht unter Ihrer Würde fänden, der geistreiche Graf  lies: Ben(t)zel-Sternau [Schließen] Bengel-Sternau in Carlsruhe , welcher der die Universitätsge | 7schäfte besorgende Geheime Rath ist, und der fügsame Klüber würden Ihnen leicht zu gewinnen seyn. Ich setze hierbey immer voraus, daß Sie gerne wieder lehren möchten, und daß Sie einen Schritt dafür zu thun nicht scheuten. Sie mögen übrigens diese Worte nehmen wie Sie sie wollen, Sie werden stets darin nur meinen guten Willen sehen; für die Wahrheit des Gesagten aber verbürge ich mich ganz, da ich authentisch mit Allem bekannt bin.

Werden Sie uns nicht bald wieder irgendetwas Litterarisches zum Besten geben? Wie steht es z.B. mit dem Platon? Wollen Sie wirklich die Pause machen, von welcher Sie einmahl sprachen? Ich leider muß wohl ia pausiren; Gott weiß, wann ich wieder an die Gesetze und Timäus komme; ich bin in so mancherley verstrickt; um Weihnachten habe ich noch ein neues Collegium angenommen, so daß ich ietzt wöchentlich 15 Stunden habe: für das künftige Semester ist auch viel zu thun,  Wahrscheinlich arbeitete Boeckh an dem noch im selben Jahr auf Latein erschienenen Werk „Graecae tragoediae principum, Aeschyli, Sophoclis, Euripidis, num ea quae supersunt et genuina omnia sint“ . [Schließen] und mein Buch über die Griechische Tragödie ist immer noch in den 2 ersten Bogen, da ich es Anfangs auf Ostern fertigmachen wollte. Es wächst mir unter der Hand, und ich kann den Stoff so nicht verarbeiten. Sonst ist auch die Metrik mein Lieblingsgeschäft, worüber ich wohl einmahl schreiben möchte; und nun habe ich etliche Wochen im Recensiren gesteckt,  August Boeckhs Sammelrezension zu Herbarts oben erwähnten Buch sowie zu Büchern von August Ferdinand Lindau und Johann Josua Stutzmann erschien in: JALZ (1808), Bd. 3, Nr. 224, Sp. 561-568, Nr. 225, Sp. 569-576, vgl. auch August Boeckh: „Kleine Schriften“, Bd. 7 (1872), S. 80-98.  [Schließen] und will nun der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung einmahl etliche Platonische lange versprochene Recensionen schicken, unter andern eine von Herbart de platonici systematis Fundamento , die Ihnen vielleicht einigen Spaß machen wird, wenn sie mir gelingt.

 Sachanmerkung:

Sonst ... geführt wird.] 
Georg Reinbeck veröffentlichte 1807 im „Morgenblatt für gebildete Stände“ anonym Briefe aus Heidelberg, die er später unter dem Titel „Heidelberg und seine Umgebung im Sommer 1807. In Briefen“ (Tübingen: Cotta 1808) als Buch herausgab; vgl. „Morgenblatt für gebildete Stände“ 1 (1807), Nr. 277 (19.11.), S. 1106–1108; 279 (21.11.), S. 1115 f.; 293 (8.12.), S. 1169 f.; 296 (11.12.), S. 1183 f. In Nr. 306 (23.12.), S. 1223 f. steht zunächst eine (zuerst im Rheinischen Bundesblatt 98 abgedruckte) Erklärung von 18 Heidelberger Professoren (darunter Creuzer, Boeckh, Marheineke und de Wette) gegen den boshaften, hämischen, verleumderischen Klatsch, den die Briefe gegen mehrere Heidelberger Institute verbreiteten; es folgen Stellungnahmen der Redaktion, Georg Reinbecks, der sich als Verfasser zu erkennen gibt, und des Verlegers Johann Friedrich Cotta. Das Erziehungsinstitut der Caroline Rudolphi wurde von Reinbeck im vierten der Briefe (S. 1169 f.) sehr abschätzig beschrieben.

Ludolphi] lies: Rudolphi
 [Schließen]
Sonst lebt sich hier ganz vortrefflich; das würden Sie selbst gestehen, wenn Sie hierher wollten. Etwas Streit, Neid und Hader ist zwar hier, e.g. die Fehde mit dem Morgenblatt: welche aber ia nicht, wie Sie thun, als eine Fehde der Uni | 7vversität angesehen werden darf, sondern nur zum Besten einiger von der Universität unabhängiger Institute, besonders der weiblichen Erziehungsanstalt einer ehrwürdigen Mademoiselle Ludolphi geführt wird.
Vor etlichen Tagen hatten wir schon wahres Frühlingswetter und bald wird es grün und schön werden: ich wünsche nur, daß auch im Norden Ihnen der Frühling, beyde sowohl der politische als der andere, recht lieblich lachen möge. Es mag wohl noch allerley zu schwatzen seyn; aber ich halte Sie auf, und es ist spät; darum für ietzt gute Nacht, in der Hoffnung, daß Sie mir nicht alle Hoffnung rauben, sondern mein fröhliches und traurig-heiteres Leben auch mit einigen erfreuenden Federzügen noch mehr beleben werden. Grüßen Sie auch Wolfen von mir tausendmahl.

Ihr ewig dankbarer

Böckh.

Zitierhinweis

2630: Von August Boeckh. Heidelberg, Dienstag, 9. 2. 1808, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0006459 (Stand: 26.7.2022)

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